Kitamura: Intimitären

Die Handlung des vorliegenden Romans ist schnell erzählt. Eine junge Amerikanerin kommt nach Den Haag,  um dort eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof anzutreten. Sie gerät in Kontakt mit ihren Kollegen aus aller Welt, aber auch mit Angeklagten aus Afrika, denen schreckliche Verbrechen vorgeworfen werden. Mit Adrian, einem ihrer Kollegen, beginnt Sie eine Affäre, deren Perspektive bis zum Ende des Buches offen bleibt.

Das war’s. Ein gehobenes Allerweltsschicksal aus der Welt der Anywheres. Reicht das als Handlungsrahmen für einen ernstzunehmenden den Roman? Ja und Nein, würde mein Germanistikprofessor antworten. Nein, wenn man den Roman wie eine Lokomotive betrachtet, die mit Volldampf durch wechselnde Landschaften rast. Liebhaber handlungsintensiver Plots kommen also ganz und gar nicht auf ihre Kosten.

Dreimal Ja, wenn es der Sprache, in der der Roman erzählt wird, gelingt, im Leser Anteilnahme, Interesse und Nachdenken zu erzeugen. Dann ist die Handlung letztendlich piepegal.  Befürworter dieser Antwort, zu denen auch ich mich zähle, tendieren ohnehin dazu, die eigentliche Romanhandlung hinter der Sprache, in der sie erzählt wird zurücktreten zu lassen.

Diesen Unterschied zwischen „nein“ und „ja“, zwischen Trivialliteratur und ernstzunehmender Belletristik, dokumentiert das vorliegende Buch. Es erzählt  nämlich nicht, wie der Titel anzudeuten scheint,  von intimen Situationen, sondern die Sprache, in der der Roman erzählt wird, ist intim, oder um es etwas vorsichtiger auszudrücken, besitzt einen intensiven intimen  Anmutungscharakter.

Aber wie passen Sprache und Intimität zusammen? mag man an dieser Stelle fragen. Schafft denn die Sprache durch ihre  Benennungsfunktion nicht notwendigerweise eine gewisse Distanz, also genau das Gegenteil von Intimität? Das ist richtig, was die Funktion der Sprache an sich betrifft, für die Erzählerin aber fungiert die Sprache als Distanzierungsmittel und Schonraum zugleich.  Die Intimität, die der Lesende bei der Lektüre des vorliegenden Buches empfindet, ist eine Intimität des Belauschens eines permanenten Selbstgespräches. das heißt, eine genaue Nachverfolgung dessen, was die Autorin innerhalb dieser sprachlichen Mantelzone mit sich selbst erörtert,  erwägt oder beurteilt. Zugegeben, das ist ein sehr schmaler Ausschnitt der literarischen Gegenständlichkeit, aber einer, der in dem vorliegenden Buch mit einem Facettenreichtum ausgeleuchtet wird, der Seinesgleichen sucht.

Was zur nächsten Frage führt: was verleiht dem intimen Selbstgespräch der Autorin diesen Sog, der den Leser von der ersten Seite an in seinen Bann zieht? Rein von der Wortwahl, dem Vokabular, der Satzlänge oder der Syntax, kommen Kitamuras Sätze auf den ersten Blick unprätentiös daher – inhaltlich-kompositorisch aber  besitzen sie  eine geradezu ideale Balance von  Anschaulichkeit und Reflexion, die so fließend ineinander übergehen, als befände sich der Leser im Gehirn der Erzählerin. Nicht das, was die Autorin in Den Haag erlebte, ist das eigentliche Thema des Romans, sondern die Abspiegelung dieser Erlebnisse  in ihrem Bewusstsein.  Kann es etwas intimeres geben, als einen Leser an dieser Intimität teilhaben zu lassen?

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