Kölbl: Zwölf Wochen in Riad. Saudi Arabien zwischen Diktatur und Aufbruch

„Wer Saudi-Arabien in den nächsten Jahrzehnten regiert, wird große Weisheit benötigen und eine glückliche Hand. Es ist nicht übertrieben, die aktuellen Veränderungen dramatisch zu nennen, sie sind historisch.“  So beginnt die Autorin Susanne Kölbl  ihre lesenswerte aktuelle Länderkunde über Saudi Arabien.  Die Autorin hatte Gelegenheit sich im Auftrag des „Spiegel“ zwölf Wochen lang in Riad und im Zentrum Saudi-Arabiens aufzuhalten und zahlreiche Persönlichkeit zu treffen.

Die Darstellungsform des Buches ist anschaulich und anekdotisch, wenngleich nicht sonderlich systematisch. Gerade die geschichtlichen Exkurse hätte sich der Leser etwas breiter gewünscht. Immerhin enthält das Buch im Anhang eine ausgezeichnete und informative Zeittafel, mit der sich der Leser über die Etappen der saudischen Geschichte informieren kann. Dabei entsteht das Bild einer Wüstendynastie, die nach dem Bündnis mit einer ultraorthodoxen Variante des Islam, dem Wahhabitentum, nach mehreren vergeblichen Anläufen die Herrschaft über Zentralarabien errang.  Kurz nachdem König Abd al-Asis 1932 die Macht übernahm und die vier von ihm eroberten Regionen Hedschas, Nadschd, Ost-Arabien und Süd-Arabien zu einem Staat vereinte, wurde 1938  in über 1400 Metern Tiefe  Öl gefunden. Bei weiteren Bohrungen entdeckte man unermessliche Ölfelder, deren Funde alles veränderten. das Königreich, die Interessenpolitik in der Region – und damit die Welt.  Die Erträge der Ölförderung finanzierten der Bevölkerung einen gediegenen Lebensstandard, was die Autorin als die Grundlage des saudischen „Gesellschaftsvertrages“ bezeichnet. In Wahrheit  liegt das saudische Durchschnittseinkommen nur bei 20.000 USD, und wirklich reich sind nur die  Eliten und die Staatsbediensteten, die Fantasiegehälter erhalten, ohne einen Cent Einkommenssteuer zahlen zu müssen. Außenpoltische Grundlage dieses Systems war und ist das Bündnis mit den USA, die ihren Waffenschild über dem Lande der Saudis halten. Tief verunsichert sind die saudischen Eliten deswegen über das Verhalten der Amerikaner im arabischen Frühling, die ihre treuen Vasallen in Ägypten und Tunesien einfach fallen ließen. Auch in Syrien und in der Beziehung zum Iran wurde die Obama Politik als Katastrophe empfunden. Das butterweiche  Atomabkommen mit dem Iran lässt grüßen.

Ein weiteres Problem kommt hinzu. Das Ende des Ölbooms ist abzusehen und Saudi Arabien muss sich ähnlich wie die Emirate am Golf diversifizieren. Die gegenwärtigen Reformen des Kronprinzen Mohammed bin Salman sind deswegen keine Folge liberaler Gesinnung, sondern pure Notwendigkeit, um langfristig den Staatsbankrott abzuwenden.  MSB fordert die   »Saudisierung« der Wirtschaft, d. h. dass die  Bürger ihre Autos künftig selbst chauffieren und den Rasen vor der Villa eigenhändig mähen sollen. Viele, die aus den ärmsten Ländern der Welt hierhergekommen waren, wurden bereits arbeitslos. Hunderttausende Gastarbeiter haben das Land schon verlassen.

Aber auch die einheimische Bevölkerung wird von den Veränderungen erfasst, wenngleich diese Reformen, so die Autorin, merkwürdig ambivalent daherkommen. MBS erlaubt den Frauen den Führerschein zu machen, lässt aber die Aktivistinnen, die genau das gefordert haben verhaften und misshandeln. Inzwischen wurde ein Gesetz gegen sexuelle Belästigung erlassen, ohne dass Vergewaltigungen an Dienstbooten als Massendelikt verschwunden wären. Die Autorin schildert schockierende Fälle, in denen Gastarbeiterinnen, die sich gegen sexuelle Zudringlichkeiten wehrten, brutal bestraft wurden. Personalchefs vieler Unternehmen machen es inzwischen zur Bedingung, dass Männer und Frauen sich bereit erklären, in gemeinsamen Büros zu arbeiten, was in der Praxis trotzdem Schwierigkeiten bereitet.  Seit 2017 können Frauen eine eigene Wohnung anmieten, ohne die Unterschrift ihres Vormunds vorzuweisen, und seit Juni 2018 fahren Frauen Auto, ein Recht, um das Aktivistinnen seit den 1970er Jahren gekämpft haben.  Die „Mutawwa“, die Religionspolizei mit den langen Bärten, gibt es noch immer, aber seit April 2016 dürfen sie niemanden mehr festnehmen. In der sogenannten „Ritzrazzia“ ließ MSB unter dem Etikett der Korruptionsbekämpfung 300 führende saudische Persönlichkeiten verhaften, die erst wieder freikamen, nachdem sie Millionen gleichsam als Lösegeld herausgerückt haben.   Persönlich gewinnend und charmant, kann MSB sofort auf brutale Härte umschalten, wenn ihm widersprochen wird. Vor den Augen der Welt wurde der Kronprinz dabei erwischt, wie er in Gestalt des Oppositionsaktivisten Kashoggis einen Gegner im Ausland abschlachten und in Säure tunken ließ.

So beachtlich die Reformen auch sind, an den monolithischen Geschlechterstereotypen haben sie bislang nichts geändert. Noch immer ist es normal, wenn  Mädchen mit zehn, elf Jahren von ihren männlichen Verwandten und der offenen Gesellschaft getrennt werden. Familienhäuser haben meist zwei verschiedene Eingänge, einen für Männer und einen für Frauen. Die Frauen leben in einem eigenen Frauentrakt, die Männer in einem ihnen vorbehaltenen Teil des Hauses. Mädchen besuchen andere Schulen und Universitäten als die Jungs. Mit 20 oder 21 Jahren wählen die Eltern für sie einen Ehemann aus. Dazu ein bezeichnendes Detail: Das Halten reiner Haushunde ist im Islam unerwünscht, weil es heißt, Männer würden das Ausführen von Hunden dazu nutzen, um Frauen anzusprechen. In der Öffentlichkeit dürfen sich die Frauen nach wie vor nur mit der Aabaja, dem körperverhüllenden Umhang, bewegen, was – so die Autorin  – auch Vorteile hat. „Ich selbst habe mich nach einigen Wochen in Riad fast an die Abaja gewöhnt“, notiert sie. „Ihre praktischen Vorzüge will ich gar nicht schmälern. Man ist immer tiptop angezogen und kann morgens im Schlafanzug in den Supermarkt gehen, um Zahncreme und Milch zu kaufen. Ich hatte auch selten so wenig Bedarf, neue Klamotten zu kaufen.“ Als „Inseln der Freiheit“ bezeichnet Koelbl die prachtvollen Einkaufs-Malls, weil hier Männer und Frauen nebeneinander sitzen und miteinander reden dürfen

Offenbar verändern sich die Blickwinkel im Lande des Propheten. So war die Begrenzung auf vier Frauen eigentlich ein Fortschritt, da er der Willkür nach oben Grenzen setzte.  Heute wird die Vielehe dagegen in der Stadt von den jungen Leuten kritisch gesehen. Mehrere Frauen können sich ohne hin nur die Wohlhabenden leisten. Um Scheidungen  zu entgehen, nehmen Männer und Frauen zur sogenannten „Mysiar-Ehe“ Zuflucht, einer Art zertifiziertem Konkubinat mit begrenzten Rechten für die Frau. Außerdem ist es seit  neuestem gesetzlich vorgeschrieben, dass der Mann, wenn er sich scheiden lässt, der Frau wenigstens die Gründe nennt. Scheiden lassen kann er sich trotzdem  jederzeit. Die zweite Frau geht übrigens die Ehe vorwiegend aus Versorgungsgründen ein.

Auch auf ein anderes heißes Eisen kommt die Autorin zu sprechen.   Das Königreich kämpft mit einer hohen Rate von Gendefekten – Grund ist die Heirat von Blutsverwandten. Dieses Phänomen gibt es nicht nur hier, es ist in der gesamten islamischen Welt zu finden. Heiratswillige müssen sich deshalb seit 2004 einem Gentest unterziehen. Nach der Untersuchung wird mehr als jedem zweiten Paar wegen »genetischer Inkompatibilität« von der Ehe abgeraten. Sind sich die Familien einig, kommt es zum Vertrag. Darin wird alles geregelt, der Brautpreis und wie das Leben des Mädchens künftig verlaufen soll. Ob sie die Universität beenden darf und arbeiten gehen kann, ein eigenes Haus haben wird, einen Fahrer, ein Hausmädchen. Auch dass der Mann keine Zweitehe eingehen soll, kann Bestandteil der Vereinbarung sein

Die Corona-Pandemie hat erstaunliche Effekte gezeitigt: Großmütter, die nie zu schreiben gelernt hatten, begannen plötzlich iPads und Microsoft zu benutzen. So konnten sie ihre Verwandten wenigstens auf dem Bildschirm sehen. Der Modernisierungsschub hat die Digitalisierung bis in die letzten Winkel des Königreichs getragen.

Diese Veränderungen finden natürlich nicht überall Zustimmung. Herr Hassan, der Vermieter der Autorin,  beobachtet genau, wie jetzt in immer mehr Restaurants die Trennwände zwischen der »Single Section« und der »Family Section« entfernt werden, die bisher auch die gesellschaftliche Trennung von Männern und Frauen symbolisierten. Er sieht, wie sich alleinstehende „Männer und Frauen ungeniert für ein Date im Café verabreden und niemand mehr danach fragt, ob sie verheiratet sind. Seit Mitte 2020 dürfen nun auch alleinstehende Frauen Wohnungen anmieten, ohne Erlaubnis eines männlichen Vormunds. Gemischte Salsa-Tanzkurse werden angeboten, und es gibt Dating-Apps, auf denen saudi-arabische Frauen nach dem Mann fürs Leben suchen. Welch ein Sittenverfall.

Die Zusammenfassung beruht auf zahlreichen Originalzitaten aus dem vorliegenden Buch, die ich  im Vorfeld einer Saudi-Arabien-Reise für mich zusammengestellt habe. Diese Zitate sind lediglich gekürzt und neu zusammengesetzt worden. Es sei deswegen ausdrücklich angemerkt, dass diese Buchzusammenfassung keine eigentliche Rezension ist, sondern fast völlig aus kompilierten Zitaten der Autorin besteht.

 

 

 

 

 

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