Koenen. Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Kulturrevolution 1967-1977

Koenen Das rote JahrzeehntAus dem Gefühl der Sinnlosigkeit, der dem steigenden Wohlstand notwendig entspringt, aus dem demographischen Druck geburtenstarker Jahrgänge und einer explosionsartigen Ausdehnung des Bildungswesens entstanden in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts die strukturellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich eine ganze Generation neu erfand – neu erfand durch eine Mixtur aus Motiven der Kritischen Theorie (ein wenig Adorno mit sehr viel Marcuse als Geschmacksverstärker), einer idyllisierenden Dritteweltverklärung (Vietnam, Kuba, natürlich Che Guevara), den Ladenhütern des orthodoxen Marxismus (Klassenkampf und Proletariat) und einem moralisierenden Auschwitz-Mythos, der vorzüglich dazu geeignet war, die ältere Generation in Bausch und Bogen zu diskreditieren. Wie der Gerd Koenen in dem vorliegenden Buch Das rote Jahrzehnt“ diese komplexen Strömungen mit der Distanz von Jahrzehnten in ihrer Doppelbödigkeit zugleich entlarvt und versteht, ist schlichtweg meisterhaft. Haut der junge Enzensberger gegenüber dem sich vermeintlich machtvoll erhebenden Kryptofaschismus mächtig auf die Auschwitz-Pauke, konstatiert Hannah Arendt trocken, er stecke sich die Gräuel der Vernichtungslager „wie einen Feder an den Hut.“ (S.99)

Alles begann in Westberlin, der „Frontstadt“, in der die weltentrückten Wohlstandkinder der alten Bundesrepublik auf der Flucht vor der Wehrpflicht und mit ihren wirren Ideen weit weg von zuhause auf die ansässigen Westberliner trafen, die ihre Freiheit unter Ängsten und Mühen gerade erst gegen die Attacken des totalitären Kommunismus verteidigt hatten. Während die Springerpresse gegen die APO Stimmung machte, wo sie nur konnte, wurden die abgedrehten Obsessionen, unter denen die die Studenten des SDS und der sich formierenden APO litten, durch Augstein, Nannen und Buccherius, den „Sugar-Daddies“ der 68er (S.37), über SPIEGEL, STERN und ZEIT landesweit ins Riesenhafte popularisiert. So galten etwa die Wohngemeinschaften als eine Lebenswelt voller Freiheit und Liebe, als ein Ort der Eintracht und der Selbstbestimmung, in dem Egoismus und familiäre Unterdrückung überwunden würden. Von „vollgeschissenen Klos, leer gefressenen Kühlschränken und zugemüllten Treppenhäusern“ wollte damals niemals etwas wissen. Aber sie waren der andere, der irdische Teil der großen Träume, die im roten Jahrzehnt die bundesrepublikanische Gesellschaft tief greifend veränderten. Immer beide Seiten zu zeigen – die grandiosen Utopien und die triste Realität, die Empörung und die Bigotterie, den Idealismus und die Heuchelei – gehört zu den Stärken des vorliegenden Buches von Gerd Koenen über die „deutsche Kulturrevolution“ zwischen 1967 bis 1977.

Aber das Buch ist beiliebe nicht nur eine Geistes- und Sozialgeschichte -auch die Abfolge der realen Ereignisse von den Turbulenzen des Schahbesuches über die Osterunruhen werden bis hin zu den konkreten Planungen einer gewaltsamen Machtergreifung der APO in Westberlin ( Achtung: Rudi-Dutschke Straße ) anschaulich und spannend erzählt. Überraschend für die meisten Leser dürfte sein, dass nach der Selbstauflösung des SDS in den frühen Siebziger Jahren in der ganzen Bundesrepublik zu einer machtvollen Renaissance des organisierten Linksradikalismus kam, deren lächerliche Grabenkämpfe eher an „Das Leben des Brian“ als an erst zu nehmende Politik erinnern. Relevanter waren da schon die „Spontis“, die Unorganisierten, die wie die „Putztruppe“ um Joschka Fischer Sonntags auf dem Bolzplatz hackten, sich in der Woche mit der Polizei prügelten, um sich nachts die Bräute vorzuknöpfen. Es war die Wirklichkeit einer großen authentischen Erfahrung zwischen Liebe, Freiheit, Kampf, Gefahr und großen Träumen, die die Spontis in der ganzen Bundesrepublik eine Zeitlang zu leben suchten. Neben der Hunderttausendschaft des Linksradikalismus und der parzellisierten Welt der Spontis, begannen bei den Jusos Figuren wie Benneter, Schröder, Scharping und die ewigrote Heidi W-Z. die Revolution zu predigen und zugleich an der eigenen Karriere zu werkeln. So entfaltete sich in diesem kunterbunten Nebeneinander von Kinderläden, Kommunen, freier Liebe, Betriebsarbeit, Hausbesetzungen, Coming-Outs von Schwulen und Lesben eine von den Medien spannerhaft betrachteten Alternativkultur, deren akademische Exponenten sich, wie das bei Revolutionsgewinnlern so zu sein pflegt, per Sammeldissertationen und Sammelhabilitationen nobilitieren und Grossteil der neuen Professorentstellen unter den Nagel rissen.

Doch nicht alle ließen sich von den Verlockungen einer sich mächtig liberlalisierenden Gesamtgesellschaft integrieren. Viele Sprösslinge guten Elternhäusern, aber noch mehr Entwurzelte, Halbkriminelle und Größenwahnsinnige erklärten dem „Schweine-System“ (Meinhoff) den Krieg, wagten den Sprung von der Kritik zur Bombe, vom Wort zum Mord. Die RAF, die Revolutionären Zellen und die „Bewegung 2. Juni“ begannen ihre blutige Spur durch das Land zu ziehen, und es dauerte eine erschreckend lange Zeit, bis sich die Masse der Sympathisanten (Achtung: Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum) von diesem Totentanz endlich abwandte. Am Ende erwies sich das gesellschaftliche System aber trotz allem als stark genug, die Jugendproteste und kulturrevolutionären Innovationen, den Klamauk und den Tod, den Idealismus und die Karrieresucht gleichermaßen zu assimilieren. Die 68er machten ihren Frieden mit der Gesellschaft und begannen ihren „langen Marsch durch die Institutionen“, wurden Feministen und Ökologen, Journalisten und Dichter, und ganz am Ende, ziemlich genau dreißig Jahren nach den Osterunruhen von 1968, wurde ein ehemaliger Stamokap-Theoretiker Bundeskanzler und ein Spontiklopper sogar Außenminister.

Haben also die 68er sich am Ende durchgesetzt? fragt Koenen im letzten Kapitel seines Buches, ohne diese Frage wirklich zu beantworten. Sieht man sich die Positionen an, in denen sich die ehemaligen Protagonisten der Kulturrevolution heute befinden, bedenkt man, wie vollständig die Alt-68er die öffentliche Diskussion beherrschen und jede Abweichung von der political correctness mit dem Risiko sozialer Vernichtung belegen, wird man diese Frage bejahen müssen. Ob der Sieg dieser Kulturrevolution aber auch ein Gewinn für Deutschland war, wird sich ein jeder im Angesicht des Zusammenbruchs der modernen Ehe, dem Schwund von Disziplin und Leistungsbereitschaft an den Schulen, den abgestürzten Fertilitätsraten sowie der astronomischen Abtreibungs- und Scheidungsraten selbst beantworten müssen.

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