Leonhard: Zentralamerika

Mal ehrlich, wer hat schon einmal den Namen des guatemaltekischen Nobelpreisträgers Asturias gehört oder weiß, dass Belmopan die Hauptstadt von Belize ist? Wer weiß genau, wo El Salvador liegt, was „Garifuna“ bedeutet oder wie viele Staaten überhaupt zu „Zentralamerika“ gehören. Die sieben Staaten, die der Region gemeinhin zugerechnet werden, sind für die meisten nicht mehr als ein Buch mit sieben Siegeln.   Damit das nicht so bleibt, hat  Ralf Leonhard das vorliegende Buch „Zentralamerika. Portrait einer Region“ verfasst. Der Autor gehört  zwar als langjähriger taz Korrespondent zur klassischen Linken, aber im besten Sinne des Wortes, das heißt, er berichtet fair und ausgewogen von dem, was er vor Ort gesehen und erfahren hat – das heißt: nicht nur die USA bekommen ihr Fett weg, sondern auch die korrupten Sandinisten oder die linke Femegerichtsbarkeit, die für unzählige und kaum bekannte Morde in der Bürgerkriegszeit verantwortlich ist

Ein komplexes Thema fürwahr, das der Autor mit einem doppelten Zugriff erschließt. In einem ersten Zugang portraitiert er zunächst  die sieben Länder Zentralamerikas in kurzen, aktualitätsbezogenen Skizzen. Bei diesen Ländern handelt es sich um die fünf Länder des ehemaligen Generalkapitanats Guatemala, also Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, plus die beiden „Außenseiter“ Panama (erst 1903 von Kolumbien zediert) und Belize, das ehemalige Britisch- Honduras. Im zweiten Durchgang geht er die Probleme der Region länderübergreifend und systematisch an und schildert in besonderen Kapiteln „Helden und Schurken“, „Oligarchen“, die Rolle der USA“, die exzessive politische und innergesellschaftliche Gewalt, die Stellung der Frauen, der Kirchen, der indigenen Kultur  oder der Deutschen in Zentralamerika. Das Buch endet mit einer kleinen Einführung in die zentralamerikanische Küche und einem ausgezeichneten Überblick über die zentralamerikanische  Literatur. In seiner Diktion ist der Autor durch die Bank präzise und sachlich. Der moralische Zeigefinger bleibt, soweit das bei einem Linken möglich ist, unten, das einzige, was in besonderer Weise auffällt, die Anteilnahme und Sympathie des Autors für die einfachen Menschen der Region.

Jeder Leser mag je nach Vorkenntnis und Präferenzen aus dem vorliegenden Buch möglicherweise andere Lehren ziehen.   Was mich in besonderer Weise überraschte, war das unglaubliche Ausmaß der politischen und innergesellschaftlichen Gewalt, vin der in dem vorliegenden Buch berichtet wird.  So lag die Mordrate in in El Salvador mit über 100 pro 100.000 Einwohnern zeitweise an der Weltspitze (Deutschland: 1 zu 100.000, das so verrufenen Johannesburg in Südafrika liegt „nur“ bei 50 zu 100.000). Was mir auch in dieser Prägnanz nicht klar war, ist der Erfolg des evangelikalen Protestantismus, der dabei ist, den Katholizismus als führende religiöse Kraft zu verdrängen. Interessant sind auch die regionalen Unterschiede, die der Autor herausarbeitet: etwa die Besonderheit Costa Ricas, des friedlichsten Staates Zentralamerikas, die aus seiner früheren kleinbäuerlichen Wirtschaftsweise und dem Fehlen einer dominanten Oligarchie erwuchs.

Insgesamt betrachtet leidet die Region an einem zweifachen Problem: einer extremen ethnischen und kulturellen Heterogenität,  die allen Konflikten zugrunde liegt  – und an einer extremen Vermögens- und Einkommensungleichheit, die die Nutznießer auf Biegen und Brechen verteidigen. Dass die USA dabei viel zu oft die Diktatoren und Caudillos gestützt haben, wird niemand ernsthaft bestreiten können, auch wenn wirksamer Reformdruck fast immer ebenfalls aus den USA kam. Besonders verhängnisvoll in diesem Kontext wirkt sich der Marxismus aus. Wie überall in der Welt ist er eine „Medizin“, die das Leiden nicht heilt, sondern durch ein neues ersetzt.

Die Darstellung endet im Jahre 2015, kann also die neuesten Entwicklungen nicht mehr umgreifen, etwa die bizarren Massenmärsche der Zentralamerikaner zur amerikanisch-mexikanischen Grenze oder die völlige Brutalisierung des Ortega-Regimes in Nicaragua. Insofern sich die Chinesen als zweite Weltmacht zunehmend in der Region engagieren (etwa beim Nicaragua-Kanal), deutet sich eine verhängnisvolle Verquickung lokaler Probleme mit weltpolitischen Gegensätzen an.

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