Mak: In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert

Mak In EuropaIm letzten Jahr des letzten Jahrtausends, genau gesagt am 4. Januar 1999, bricht der holländische Autor Gert Mak zu einer einjährigen Reise auf, die ihn nicht nur geographisch kreuz und quer durch Europa sondern auch chronologisch durch nicht weniger als einhundert Jahre europäischer Geschichte führen sollte. In 12 Kapiteln, analog zu den 12 Monaten des Jahres, reist Mak auf fast 1000 Seiten (!) von der Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 (Januar) bis in die unmittelbare Vorgeschichte der Euro-Einführung im Jahre 1999(Dezember). Jedem Monat, sprich jedem Kapitel, ist eine Karte vorangestellt, die den Reiseweg des Autors und die die Schauplätze kennzeichnet, die er aufsucht( im Januar bereist Mak z. B. der Reihe nach Paris, London, Berlin und Wien, die Zentren der kontinentalen Mächte, wobei man sich allerdings fragt, warum er St. Petersburg ausgespart hat). Dabei verwebt Mak Gespräche, die er vor Ort mit Augenzeugen führte, Reiseeindrücke, Ortsbeschreibungen, Stimmungsschilderungen, geeignete Passagen aus der biographischen und historischen Standardliteratur mit flashbacks zur konkreten Geschichte Europas im Jahre 1999/2000. Herausgekommen ist eine bislang jedenfalls einzigartige europäische Geschichte des 20.Jhdts. eine Kombination von historischer Darstellung, Geschichtsphilosophie und Reisefeuilleton auf sprachlich brillantem und gedanklich staunenswertem Niveau – geschrieben von 1 (352)jemandem, der am Ende des Jahrhunderts seine Leser an die Hand nimmt und all die Stationen dieses Säkulums auf dem Hintergrund einer stauenswerten Gestaltungskraft und Kompetenz noch einmal abschreitet und bewertet.
Auch wenn man über die einzelnen Schwerpunktsetzungen ( warum war Mak in dem Februar Kapitel, das das Jahr 1914 behandelt, nicht in Sarajewo?) und Wertungen durchaus streiten könnte (etwa die Sichtweise der 68er-Revolte), wird es kaum jemandem geben, der in dem vorliegenden Geschichtsmassiv nicht 1 (336)seine Nuggetts finden wird. Mich persönlich hat die die kurze Geschichte Jugoslawiens, die der Autor ab S. 847ff. skizziert besonders beeindruckt, vor allem, weil inzwischen sogar gebildete Zeitgenossen vergessen haben, dass die Balkankriege 150.000 Tote forderten. Auch die knappen, aber extrem analytischen Betrachtungen zur Struktur der Außenpolitik an sich ( S. 684ff.) sind ungemein lesenswert. Erstmalig in dieser Form veröffentlich: eine Auflistung all der Menschen in Europa, die im zweiten Weltkrieg größere Gruppen von Juden unter Lebensgefahr gerettet haben ( 446ff.). Pessimistisch dagegen die Themaatisierung der „sozialistischen Gretchenfrage“, die auf einer viertel Seite erklärt, warum möglicherweise freie und liberale Gesellschaften gegen den sozialistischen Bazillus den Kürzeren ziehen werden ( S. 858).
So weit so gut – aber gibt es dann gar nichts zu meckern an dem vorliegenden Werk? Nichts von Belang – wenn man vielleicht davon absieht, dass das Buch immer besser und spannender wird, je mehr es sich der Gegenwart nähert (dass es also selbst auf sehr hohem Standard noch einen Niveaunterschied aufweist) und etwa dem Umstand, dass es ganz und gar unmöglich ist, das Buch in einem einzigen „Rutsch“ zu lesen. Es ist sogar unnötig, denn das geradezu gigantische Register am Ende des Werkes ermöglicht eine schnelle Orientierung zu nahezu jeder Frage von europageschichtlichem Rang über einen Textkorpus von sage und schreibe 900 Seiten! Vielleicht ist der Schluss des Werkes ein wenig zu blauäugig geraten, denn der Autor behauptet am Ende seiner transkontinentalen Reise allen Ernstes „Europa sei das gigantische Laboratorium geworden, in dem die Zukunft des Menschen neu gedacht werde,“ weil hier „nachhaltige Entwicklung, Lebensqualität und Gemeinwohl“ im Mittelpunkt ständen (S. 890). Wenn man an die Vergreisung Europas, an seine inkompetenten politischen Eliten, die Staatsverschuldung und die ausufernde Kriminalität zur Jahrtausendwende denkt, kann man da allerdings seine Zweifel haben, aber bei einem Kontinent, der solche Bücher hervorbringt, braucht man die Hoffnung nicht aufzugeben.  IMG_0032

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