Makine: Das französische Testament

Makine Das französiscche TestamentWarum erfahren Schriftsteller von ihren Lesern mitunter solche Verehrung? Weil sie ihnen verzauberte Stunden schenken, in denen eine ganze Welt durch ihre Kunst vor den Augen des Lesers entsteht. Eine ganze Welt und ein ganzes Jahrhundert, angefangen mit dem Besuch Zar Nikolaus II in Paris bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Rußlands bilden das thematische Umfeld für Makines preisgekröntes Werk. Vordergründig und handlungsleitend dreht es sich um die Geschichte eines heranwachsenden Jungen und seiner französischen Großmutter, anhand derer einhundert Jahre europäische Geschichte in meisterhafter Exemplarik entfaltet werden. Wie in einer klassischen Familiensaga aber ohne die naheliegende epische Bräsigkeit bilden  der erste Weltkrieg, die schrecklichen Hungersnöte der Bürgerkriegszeit, die stalinistischen Säuberungen und der zweite Weltkrieg die  wechselnden Bühnenbilder der Handlung, die im wesentlichen aus einer Aneinanderreihung eindringlicher Miniaturen besteht, die Rußlands Weite, sein Wesen, seine Großartigkeiten und Monstrositäten porträtieren. Im Kern geht es dem Erzähler und Protagonisten, der sich am Ende nicht als wirklicher Enkel sondern als ein von der vermeintlichen Großmutter adoptiertes russisches Waisenkind herausstellt, um nicht weniger als um den Aufweis zweier Gesellschafts- und Lebensformen im Europa des 20. Jahrhunderts, wobei das Französische als Inbegriff von Einfühlungsvermögen, Freiheit, Liebe und Empfindsamkeit das russische Wesen gleichsam ins Ideale transzendiert.

Das sind die hohen Ambitionshorizonte, denen der Autor ohne jeden erhobenen Zeigefinger, ohne Konstruktivitsmus und psychologische Unwahrscheinlichkeiten voll und ganz gerecht wird  Man weiß gar nicht, was man mehr bewundern soll: das zurückhaltende Erzähltempo, die unprätentiöse, aber präzise Sprache oder die schier unendliche Fülle einprägsamer  Bilder, die noch lange nach der Lektüre haften bleiben. Nachdem ich bei meiner Reise durch Russland so viele Kirchenruinen gesehen hatte, ergriff mich Makines Beschreibung des revolutionären Pöbels, der seine Wut vor allem an den Klavieren der bürgerlichen Haushalte ausließ, ganz besonders.  „Eisbein mit Sülze“ und „Der Kampf der Samoware“ – zwei Bilder für die schrecklichen Lebensumstände des bolschewistischen Russlands –  verfolgten mich bis in den Schlaf – das erste umschrieb  die  Praxis,  die nackten Toten des nordsibirischen Gulag einfach durch ein Loch im Eis ins Wasser zu werfen und das zweite kennzeichnete den Kampf arm- und beinloser Kriegskrüppel, die sich mit Messer in den Mündern gegenseitig umbringen, nur um am Ende von der Polizei in den hohen Norden abtransportiert zu werden und elend zu erfrieren.

Keine Seite dieses Buches ist zuviel, jede ruft eine neue Gefühlstönung, neue Anteilnahme und Ergriffenheit hervor, und als am Ende Gulag und Sowjetsystem zusammenbrechen und der Erzähler in ein neues  ungewisses Leben aufbrechen muss, ist man traurig, Abschied zu nehmen.  Was kann man über ein Buch Schöneres sagen?  Makine Das französiscche Testament

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