McCarthy: Die Abendröte im Westen

51rE3H9LWmL._SX303_BO1,204,203,200_Seht das Kind. Der Junge ist blass und mager, trägt ein dünnes, zerschlissenes Leinenhemd. Er schürt das Feuer in der Spülküche.“ Mit diesem Satz beginnt eine der literarisch anspruchsvollsten Westernsagas der amerikanischen Literatur, die Geschichte eines „Jungen“, der aus seinem Heimatort in Tennessee flieht und gen Westen wandert, der Abendröte entgegen, nach Texas und Mexiko, deren Grenzen um 1850 noch nicht endgültig festgelegt waren. In einer geradezu altestamentarischen Sprachwucht ohne Schnörkel, aber mit genialem Timing, schildert McCarthy das Schicksal des „Jungen“ und seiner schrecklichen Gefährten, die eine Spur von Blut durch den amerikanischen Südwesten ziehen.

Irgendwo in Texas erschlägt der Junge einen Mexikaner in einer Bar, dann heuert er an bei einer Freischärlertruppe an, die nach Mexiko zum Plündern zieht. Unterwegs werden die meisten von Apachen massakriert, doch der Junge entkommt nach Chihuahua, wo er bei einer neuen Freischärlergruppe anheuert, die den Auftrag erhält, den Norden Mexikos auf Indianerjagd zu durchstreifen. Der Auftrag ist einfach, lukrativ, aber gefährlich. Jeder Indianer ist zu h1 (47)massakrieren, und für jeden Skalp, der am Ende der Reise dem Gouverneur vorgelegt wird, gibt es Bares. Und so ziehen die Skapljäger in schier unendlichen Märchen durch die Einöde, durch Wüsten und Gebirge, immer begleitet von den Großartigkeiten der Natur, die ihre Morde mit ihrer Grandiosität wie ein unpassendes Bühnenbild umrahmt. „Die ganze Nacht lang zuckten Flächenblitze im Westen, ursprungslos zwischen mitternächtlichen Sturmwolken, machten aus der weiten Ödnis einen bläulichen Tag, die Berge jäh am aufscheinenden Horizont, starr, bleiern und schwarz, als gäbe es da draußen ein fremdartiges Land, dessen wahre geologische Beschaffenheit nicht Sein, sondern Angst war. Donner grollte aus dem Südwesten heran, Blitze erleuchteten ringsum die Wüste, blau und kahl, große, knisternde Arme, ausgesandt aus der umfassenden Nacht wie ein plötzlich heraufbeschworenes Dämonen- oder Zwischenreich, das so wenig Spuren, Rauch und Zerfall zurückließ wie ein schwerer Traum.“(S.68) Wenn es keine Indianer zu massakrieren gibt, werden einfach Mexikaner am Wegesrand skalpiert, wer will am Ende den Unterschied erkennen? Als sie es gar zu toll treiben, müssen sie die Provinz von Chihuahua verlassen und nach Sonora ausweichen, wo sich der Totentanz wiederholt. Wieder werden sie als Indianerjäger angeheuert, wieder morgen sie, wer ihnen vor die Flinte kommt, bis sie am Ende ihrerseits von den Yuma-Indianern massakriert werden und die letzten von ihnen durch die Wüste nach San Diego fliehen.

Eine Westerngeschichte zum Schaudern, ohne jeden falschen Glitzer, ohne einen Funken Moral, aber in einer bemerkenswert poetische Sprache erzählt. Nichts für Freunde einer packenden Handlung, denn die ewige Wiederkehr des Todes ermüdet am Ende sogar den geduldigsten Leser, eher was für Liebhaber der Sprache, des Symbolismus und der Naturschilderung

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