Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Dem Geheimnis großer Literatur auf der Spur

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art“, lautet der erste Satz von Tolstois „Anna Karenina“.  Gilt das auch für Bücher? Sind alle guten Bücher „gut“ aus den gleichen Gründen, während die schlechten ein ganzes Universum von Fehlern  aufweisen?

Mit dieser Frage, allgemeiner formuliert, mit dem „Geheimnis großer Literatur“  beschäftigt sich der Schriftsteller und Germanist Michael Maar in dem vorliegenden Buch. Große Literatur, so lautet Michael Maars einleitende These,  beruht zuerst und vor allem auf dem „Stil“.  Aber woran erkennt man den „guten Stil“? Was macht seine Besonderheit aus? Ist er eine Begabung, die sich an allen Gegenständen gleichermaßen erweist wie Heimito von Doderer vermutete oder ändert er sich von Buch zu Buch, wie man es bei Alfred Döblins Werken nachweisen kann?

Zur Beantwortung dieser Fragen wählt der Autor ein zweistufiges Verfahren. Zunächst steigt er tief hinab in das Souterrain literarischer Produktivität und präsentiert die „Instrumente“ guter Literatur, um sodann die Anwendung dieser Instrumente in der belle etage der „großen Literatur“ zu erproben.  Diese Sequenz hat ihre Vorteile, denn im literarischen Souterrain kommt endlich einmal das elementare Handwerkszeug zur Sprache, ohne das weder Meisterwerke noch belletristische Eintagsfliegen möglich wären. Es geht um  Bindestriche und Kommata, um Verben, Adjektive, Metaphern, Hypotaxen, Satzlänge, Sprachrhythmus und was es sonst noch alles im Werkzeugkasten der guten Literatur zu entdecken gibt. Lieber zu wenig als zu viel, empfiehlt der Autor zum Beispiel beim Gebrauch des Adjektivs, denn, so Maar, „Eine gute Wurst braucht keinen Senf“. Bei der Auswahl zweier Wörter zur Beschreibung eines Sachverhaltes rät Maar in Anlehnung an Paul Valeriy dazu, immer das schlichtere zu wählen. Dementsprechend hüte man sich vor dem Gebrauch allzu greller Verben und vermeide  den „steilen“, den „pathetischen“ Stil, weil er allzu schnell die Grenze zur Lächerlichkeit überschreite. Die Metapher ist für Maar das „Herz der Poesie“, sie schmückt jeden Text – und verhunzt ihn, wenn die Metapher missglückt.

Doch ebenso wie die Beherrschung der Notenschrift und der Technik des Sonatenhauptsatzes noch keine Sinfonie ergibt, ist die Beherrschung der „Instrumente“ nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Zweierlei kommt hinzu: die individuelle Einzigartigkeit, mit der der Autor seine Begabung entfaltet (Maar nennt es „Charakter“) und die Imperative, die sich aus der Besonderheit des literarischen Gegenstandes ergeben.  Dass sich Michael Maar im Kapitel „Bibliothek“ auch diesen beiden Problemfeldern stellt, hebt seine literarische Stilkunde über vergleichbare Werke weit hinaus.

Aber wie macht er das? Auf der Suche nach der „großen Literatur“, in der der „Charakter“ des Dichters und die adäquate Behandlung seines Themas zur Deckung kommen, lässt Michael Maar  die Großen und weniger Großen aus zweihundert Jahren deutscher Literaturgeschichte am Leser vorüber defilieren.  Mitunter, auch das sei angemerkt, verliert der Autor dabei vor lauter Darstellungsfreude sein Thema etwas aus dem Blick, was aber nichts macht, weil die breiten Passagen literaturgeschichtlicher Sachdarstellung, die der Autor bietet, ein wenig den Sättigungsbeilagen schmackhafter Gerichte gleichen, ohne die man auch nicht satt werden kann. Auch die Urteile, die  der Autor  fällt, werden nicht jedermann einleuchten. Jedermann aber kann sie anhand hunderter breit eingefügter Originalzitate  nachprüfen.  Enthusiastische Devotion erfahren etwa Goethe, Kafka, Thomas Mann, Gottfried Keller und Botho Strauß, um nur einige zu nennen. Nicht so hoch auf dem Siegertreppchen rangieren Stil und Prosa von Berthold Brecht, Rilkes allzu „steile“ Pathetik oder die Manierismen im Werk von Hans Wollschläger.   Wer dazu Einzelheiten in Gestalt eines Bücherexzerptes erfahren möchte, der klicke hier.

So sammeln sich wie in einem Schatzkästlein  die Perlen und das Katzengold der deutschen Stilistik, ohne dass sich bis kurz vor Ende des Buches eine bündige Antwort auf die Frage erschließt, worin denn nun das „Geheimnis großer Literatur“  besteht. Es gehört zum ambitionierten didaktischen Duktus des vorliegenden Buches, dass der Autor seine Antwort erst ganz am Ende gibt, und zwar anhand eines Themas, „bei dem alles vom Stil abhängt“.  Die Rede ist von einer Literaturgeschichte der Sexualität.  Was es auf diesem Problemfeld zu lernen gibt, gilt pars pro toto auch für den Stil im Allgemeinen.

Auf dem langen literaturwissenschaftlichen Weg von  Kleist, der in „Die Marquise von O…“ ,das sexuelle Geschehen nur mit einem Bindestrich andeutet,  über Goethes „Elegien“ und die endlose Kutschenfahrt der Madame Bovary bis zu Schmitters Masturbationsszenen „impft“ der Autor den Leser gerade durch die Vorführung immer exhibitionistischer Details mit der Sehnsucht nach zwei Momenten, ohne die Stil undenkbar ist : nach der schamhaften Haltung des Nicht-alles-Aussprechen-Wollens, die der Phantasie erst ihren Raum lässt  – und nach der Ironie, mit der sich der Leser seine Autonomie gegen Zumutungen aller Art bewahrt.

Scham und Ironie sind aber nicht nur für die Beschreibung der Sexualität unverzichtbar, wenn sie nicht zur Pornografie verkommen will,  sie definieren auch die Pflöcke zwischen denen sich alle literarisch gehaltvolle Beschreibungen einfügen müssen.  Grandios, wie der Autor im buchstäblich letzten Satz seines umfangreichen Werkes seine Schlussfolgerung präsentiert:  „Die Grenzen der Sprachen sind mitnichten die Grenzen der Welt“, schreibt Michael Maar, weswegen man der Welt allein mit der Sprache niemals ganz teilhaftig werden könne. Aber man kann wenigstens versuchen, sie literarisch zu „erjagen“: „Jagen, besser jagen, links begleitet von Scham, rechts von Ironie – das ist Stil.“

 

 

 

 

 

 

Kommentar verfassen