Parks: Träume von Flüssen und Menschen

Früher mussten die Leute Romane lesen, wenn sie Grundlegendes über ihre Gesellschaften und ihr Verhalten erfahren wollten. Dann kamen Soziologie, Psychologie, Anthropologie, und die Kuriosa des alltäglichen Verhaltens wurden in  sozialwissenschaftliche Gesetze überführt. Sind deswegen Romane als soziologische Erkenntnisquelle für die Wirklichkeit in der wir leben, überhaupt noch sinnvoll?

Ja, würde Tom Parks antworten, sie sind sogar notwendig, um die reichlich abstrakten Erkenntnisse und Theoreme der Anthropologie und Soziologie in literarische Formen zu übersetzen und plausibel zu machen. Was liegt da näher als einen Roman über einen Sozialphilosophen zu schreiben, der sein Leben lang nichts anderes tat, so genau wie möglich hinter die Kulissen des sozialen Miteinanders zu blicken. Das ist der Ansatzpunkt des vorliegenden Romans „Träume von Flüssen und Menschen“.

Im Mittelpunkt des Buches steht der Sozialanthropologe Albert James, eine vielseitige und schillernde Figur des Wissenschaftsbetriebes, der in zahlreichen Disziplinen geforscht publiziert hat, ohne jedoch seine zahlreichen Erkenntnisse in eine wissenschaftliche Synthese zu überführen (in ganz wagen Umrissen wird hinter der fiktiven Gestalt von Albert James übrigens die Figur des Sozialanthropologen Gregory Bateson sichtbar). Allerdings handelt es sich bei Albert James um eine Hauptfigur, die den ganzen Roman über nicht aktiv in Erscheinung tritt, weil sie gleich zu Anfang des Buches verstirbt. Handlungsträger sind dagegen Alberts Witwe Helen, eine sozial engagierte Ärztin, die in Delhi unentgeltlich in einem Krankenhaus arbeitet, der verzogene Sohn John, der auch noch dem Studium noch von den Zuschüssen seiner Eltern lebt und der Journalist Paul Roberts, der gleich nach dem Tod des Wissenschaftlers in Indien auftaucht, um eine Biographie über den Meister zu verfassen.

Jeder Handlungsträger sieht in dem großen Albert jedoch etwas anders. Als Kulturrelativist reinsten Wassers, der jede Einmischung der Forschung in die soziale Wirklichkeit notorisch ablehnte und sein Leben lang versuchte „das Reich der Schamanen mit den Mitteln der Wissenschaft zu durchleuchten“ (S.130) ist er für seinen Biographen Paul Roberts ein Genie, für seine Frau Helen ein Heiliger und für seinen Sohn John schlichtweg durchgeknallt. Je näher man der Figur kommt, desto zweifelhafter werden überdies die wissenschaftlichen und moralischen Konturen des Forschers, bis er sich am Ende seines Lebens ganz in skurrile Objekte zu verlieren scheint und den Verführungskünsten einer agilen jungen Inderin gefährlich nahe kam.

In dem Maße, in dem die Gestalt des Menschen Albert James in den Rückblicken und Reflexionen fassbarer wird, rückt mit der Ehe von Albert und Helen  James das zweite tragende Motiv des Buches in den Mittelpunkt. Ganz so ideal wie die Ehe der James nach außen wirkte, war das Zusammenleben von Albert und James nämlich keineswegs.  Abgesehen davon, dass die Eheleute schon seit Jahren nicht mehr zusammen schliefen, hat die Helen ihren Mann mit dessen Wissen regelmäßig betrogen, nicht, weil sie ihn verlassen wollte, sondern einfach nur aus Lust und Gelegenheit, ohne dass es ihr irgendetwas bedeutet hätte.  Wie sich herausstellt, war es auch der plötzliche Tod des Professors in Wahrheit ein Freitod, bei dem die Ehefrau ihrem Mann mit einer Spritze assistierte. Halten sich bei dieser Ehegeschichte Momente der Entfremdung und Verschmelzung auf eine eigentümliche Weise die Waage, gehört die Vorstellung, wie Albert  in den Armen seiner Frau Helen starb, um seine Ehe nicht zu seinen Lebzeiten zu Ende gehen zu lassen, allerdings zu den stärksten Momenten des Buches – auch gerade deswegen, weil diese Szene auch nur in Andeutungen beschrieben wird.

Doch auch das ist noch lange nicht die vollständige Geschichte. Rund um den Untergang von Albert und Helen James agiert eine ganze Galerie von Personen, von denen man die überwiegende Zeit des Buches ahnt, dass ihre Handlungen und Intentionen in einer ganz enigmatischen Korrespondenz zum Schicksal von Albert und Helen stehen, ohne dass man ohne weiteres erkennen könnte, worin diese Beziehung besteht.   John James und seine schrille Freundin Elaine, der Schürzenjägerbiograph Paul Roberts, die rebellische Jasmeet und zahlreiche anderen Figuren agieren wie Trabanten innerhalb einer Struktur, von deren vermeintlich auflösbarer Logik die Spannung des Romans über nicht weniger als 500 Seiten zehrt.

Damit ist die anspruchsvollste und abstrakteste Erzählebene des Romans erreicht. Denn das vorliegende Werk ist nicht nur ein Roman über einen Sozialanthropologen und seine Umgebung sondern über die sozialanthropologische Perspektive selbst. Die Meisterschaft des Autors erweist sich darin, dass er unaufdringlich aber effektiv, den Leser dazu verführt, gegenüber der Romanhandlung und seiner zahlreichen Verästelungen eine gleichsam sozialanthropologische Forscherperspektive einzunehmen. Indem der Leser nach  dem „Sinn“ hinter der Handlung, nach dem gemeinsamen Nenner von Liebe und Dauer, Logik und Phantasie, Distanz und Engagement, Belustigen und Bewundern, London und Delhi in einem imaginären „Netz“ oder „System“ forscht, nimmt er die gleiche investigative Perspektive ein wie der verstorbene Albert, der auch sein Leben lang nach dem letzten und fundamentalen Algorithmus des sozialen Lebens fragte, ohne eine Antwort zu erhalten. Das ganze Buch ist voller szenischer Verdeutlichungen soziologischer, psychologischer oder sozialanthropologischer Fragestellungen und Theoreme, meiner Ansicht nach am brillantesten gelungen in der wunderbaren Abschlussszene des Buches, in der   es John und Elaine gelingt, sich gegenseitig etwas vorzuspielen, um ihrer Beziehung eine neue Basis zu geben.

So legt man das Buch nach fünfhundert Seiten tief bewegt zur Seite. Der letzte Algorithmus des Sozialen, von dem aus alles verstehbar und prognostizierbar wäre, hat sich nicht enthüllt, aber zum Wesen des Humanen gehört es, immer aufs Neue so ambitioniert danach zu suchen, als ob es ihn gäbe. Das ist für mich die Einsicht dieses großen Werkes. Die Würde liegt nicht im Finden und Verstehen sondern im Suchen.

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