Pruz: Die Puppe

indexEs ist schon ein Kreuz mit den Nationalsprachen. Wenn es nicht gerade Englisch, Französisch, Deutsch oder Spanisch, meinetwegen auch noch Italienisch oder Russisch ist, dann bleiben auch epochale Werke unbekannt. Oder wer kennt schon den monumentalen Roman „Lalka“ (Die Puppe) des polnischen Schriftstellers Boleslaw Pruz? Ich selbst habe immer nur davon gehört, von einem Gesellschaftsroman vom Range „Anna Kareninas“ oder „Madame Bovarys“ ohne jemals das Buch in die Hand zu bekommen. Erst jetzt hat mir meine Frau  antiquarisch die einzige deutsche Übersetzung besorgt, die im Jahre 1954 im Aufbau-Verlag in der damaligen DDR erschienen ist.

Das Buch ist nicht nur Literatur von hohen Graden sondern selbst ein Zeitdokument. Es bietet nicht mehr und nicht weniger als ein Panorama der aristokratisch-bürgerlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. Mehr noch: In der Weite seiner Themen, der Vielfältigkeit seiner Figuren und vor allem in der genialen sprachlichen Ausdruckskraft ist es wie ein Balkon, um auf eine ganze Welt aus dem Abstand von einhundertdreißig Jahren zurückzublicken. Die Handlung gleicht einer Fahrt auf einem großen Strom, dessen Ufer so langsam vorüberziehen, dass sich alle Einzelheiten, sprich Gestalten und Motive, wie von selbst einprägen. Die Erzählhaltung ist konventionell, gottseidank möchte man sagen, ohne banal zu sein: es wird vorwiegend auktorial erzählt, ergänzt durch die Tagebücher des  Ignacy Rezkis, des väterlichen Freundes der Hauptperson.

Die Handlung spielt zum Jahreswechsel 1878/9 und beschreibt  zunächst den f (2)Aufstieg des Galantateriewarenhändlers Thomas Wokulski, der sich vom einfachen Kommis zum Selbständigen und dann zum großen Handelsherrn emporarbeitet, bis er sich schließlich unter den Adligen seine Geschäftspartner aussuchen kann. Der Treibsatz der Wokulski in Bewegung hält – das ist der zweite Schwerpunkt des Romans – ist die Liebe, die Liebe des bürgerlichen Kaufmannes zur schönen Adligen Isabella Lecki, die er nur gewinnen kann, wenn er zum Mann von Welt aufsteigt. Aber ach, die schöne Isabelle, die Tochter eines verarmten und vertrottelten Barons, verachtet den Kaufmann und über 700 Seiten hinweg muss der Leser mitansehen, wie dieser mäßig gebildete Backfisch sich für jeden dahergelaufenen verarmten Adligen, für Geiger und Tenöre begeistert, aber den großen Wokulski außen vorlässt.  All das vollzieht sich auf einer dramatisch gestalteten Bühne voller lebenspraller Figuren, allen voran dem alten Kommis Ignacy Rezki, der im Buch die zweite Stimme erhält, der tugendhafte Frau Stawka, der erfahrene Gräfin Wasowska, der elenden Intrigantin Krzeskowska, die sich immer in ihren eigenen Schlingen verfängt und vielen anderen Gestalten Die parasitäre Nutzlosigkeit des Adels, der Aufstieg des Judentums („tüchtig, aber ohne Charakter“), die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit und die Paradoxien der Liebe sind immer wiederkehrenden Themen. Vor allem das letztere Thema wird auf jede nur denkbare Weise durchdekliniert, so dass das Buch auch als eine Enzyklopädie der unglücklichen Liebe gelesen werden kann. Am Ende, als  Wokulski, der in der Liebe wie ein Kind agiert, es scheinbar endlich geschafft hat, die Verlobung mit der schönen Isabella auf die Reihe zu bringen, belauscht er ein Gespräch, in dem er erfährt, wie wenig er seiner Geliebten in Wahrheit bedeutet. Der Rest ist Leiden, Schweigen und Verschwinden. Wokulski löst sein Geschäft auf, verschenkt sein Vermögen und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Gerüchten zufolge hat er sich umgebracht, und es ist als hätte es ihn nie gegeben.

Der Roman hat mich über 863 Seiten lang problemlos bei der Stange gehalten, dabei geschieht eigentlich recht wenig. Doch die Charakterzeichnungen, die Gespräche und vor allem das Thema fesseln des Leser, mich jedenfalls, von der ersten bis zur letzten Seite. In einer Zeit, in der jedes  Beziehungs-„Romänchen“ als Ereignis   in den Feuilletons gefeiert wird, ist es ein Jammer, dass dieser große Roman nur antiquarisch (und zu extrem hohen Preisen) erhältlich ist.

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