Ransmayr: Die letzte Welt

  Einige großartige Bücher begegnen einem erst im Alter. Was ein Glück ist, weil man dann für Sie bereit ist. Dieses Gefühl hatte ich als ich, als auf Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“ stieß, die literarische Verarbeitung der Verbannung des römischen Dichters  Ovid an das Schwarze Meer. Konkreter Anlass für die Beschäftigung mit Ovid war mein Besuch der rumänischen Hafenstadt Constanta und ebendort die Begegnung mit der Ovid-Statue  auf dem zentralen Marktplatz der Stadt.

Da stand er, einer der größten Dichter der Antike in aufrechter Haltung zwischen Nachdenklichkeit und Trauer, als sinne er darüber nach, welches Vergehen ihn an die Ufer des Schwarzen Meeres in die Verbannung verschlug.Wirklich geklärt, ist diese Frage bis heute nicht. Fest steht nur, dass der alte Kaiser Augustus den berühmten Autor der „Liebeskunst“ und der „Metamorphosen“ im Jahre 8 der Zeitrechnung nach Tomis, einer griechischen Kolonie am Ende der damals bekannten Welt, verbannte. Möglich, dass sich der moralsaure alte Kaiser über Ovids „Liebeskunst“ geärgert hatte (immerhin werden an einer Stelle der „Liebeskunst“ die verschiedenen Stellungen der Frau diskutiert, die ihr die größte Lust bereiten), möglich aber auch, dass Ovid Mitwisser prekäre Geheimnisse des julischen Kaiserhauses war und deswegen aus Italien entfernt werden sollte. Auf jeden Fall verschwand der Dichter für die letzten neun Jahre seines Lebens aus Rom und starb einsam und verlassen an den Ufern des Schwarzen Meeres im Jahre 17 der Zeitrechnung. Seine beiden Bücher „Tristia“ und „Briefe vom Schwarzen Meer“ waren die Früchte dieser Zeit. In ihnen artikulierte sich die Einsamkeit des Dichters fern der Heimat und die Vergeblichkeit aller Mühen, Begnadigung und Heimkehr zu erwirken.

Wie Christoph Ransmayr dieses Material gestaltet, ist ohne Einschränkungen genial, auch wenn es etwas dauert, bis der weniger geniale Leser diese Genialität begreift. Zunächst ist man gerade zu besoffen von Ransmayrs poetischer Sprache. Selten habe ich ein Buch gelesen, bei dem ich so oft den Impuls verspürte, ganze Absätze abzuschreiben. Erst nach und nach wurde mir klar, dass Ransmayrs „letzte Welt“ eine kongeniale Abspiegelung von Ovids Hauptwerk „Metamorphosen“ ist. Nicht nur, weil die Namen der handelnden Personen der antiken Mythologie entlehnt sind, mit denen Ovid in den „Metamorphosen“ spielt, sondern weil die Entwicklung des Verbannungsortes, die Ransmayrs Buch beschreibt, selbst eine  Metamorphose ist. Ransmayrs Buch ist große Literatur, nicht nur wegen der Sprache (die immer ein Eigengewicht besitzt), sondern auch wegen Form, die nicht bloß über einen Dichter und sein Werk erzählt, sondern sie auf der Ebene der Handlung konkret wiedererstehen lässt. Das ganz ungeachtet der Tatsache, dass sich Ransmayr umfangreiche dichterische Freiheiten herausnimmt: so ist die Handlung aus der Antike heraus in eine nicht näher gekennzeichnete Gegenwart verlegt worden und das antike Tomis ist bei Ransmayr umgeben von schneebedeckten Bergen, wo doch das heutige Constanta in einer topfebenen Landschaft liegt.

Kommentar verfassen