Reich Ranicki: Lauter Verrisse

,,Es gibt eine zerstörende Kritik und eine produktive.  Jene ist  sehr leicht,  denn man darf sich nur  irgendeinen  Maßstab,  irgendein  Musterbild,  so  borniert  sie  auch  seien,  in  Gedanken aufstellen, sodann aber kühnlich versichern,  vorliegendes Kunstwerk  passe nicht dazu, tauge deswegen nichts, die Sache sei abgetan. Die produktive Kritik ist um ein gutes Teil schwerer: sie  fragt.  Was  hat  sich  der  Autor  vorgesetzt?   Und  ist  dieser  Vorsatz   vernünftig   und verständig?  Und  inwiefern  ist  es  gelungen,  ihn  auszuführen?“  Die  produktive  Kritik,  so Goethe weiter,   ist  eine Kritik im Dienste  des Künstlers,  sie sucht ihn in seiner ganzen Tiefe zu verstehen und in   seiner Weiterentwicklung  zu helfen.  Da ist  Marcel Reich-Ranicki,  der dieses Zitat auf S.  26 des vorliegenden Buches anführt,   natürlich ganz anderer Meinung:  die Kritik muss nicht im Dienste  des Künstlers  sondern des Publikums  stehen.  Schande über die

,,Alleslober“,  ruft  er  auf  S.  35  und  postuliert:  Kritik  darf nicht  nur  nicht  nicht  ablehnen, sondern  sie  MUSS  ablehnen.  Wie  sehen  diese  Ablehnungen  bei  MRR  aus?  Dass  Hans Magnus  Enzensberger   in  seiner  „Anthologie   von   Schiller  Gedichten“   eine  „gereinigte Auswahl“ (S. 184) vorgeworfen wird, ist noch der mildeste Vorwurf, der als „Verriss“ in dem vorliegenden Buch erhoben wird   Bei Wellershoffs Werk ,,Die Schattengrenze“ ist das Geschreibsel  aber schon ,,zu  schlecht, als das es ignorier  werden könnte“(S.  102).  Handkes

„Linkshändige  Frau“  ist  eine  verunglückte  Courts-Mahler-Parodie(S.   182),  Peer  Härtlings ,,Das  Familienfest“  wird  mit  den  literaturästhetischen  Maximen  des  Autors  daselbst  zur Strecke gebracht,  (S.155).  Stefan  Heym  verdankt  seinen Rum  weniger  der  Qualität  seiner Bücher  als seinem Ruf eines SED-kritischen  Schreibers  (S.  82),  in  Wahrheit  scheitert  er in seinem Roman „5  Tage im Juni“ aber nicht   an der Zensur „sondern an den Grenzen seines Talents“(S.85).   So  geht  das  in  einem  fort,  und  alles,  was  der  Meister  gegen  Thorberg, Andersch,  Seghers und Konsorten  einwendet,  klingt  so einleuchtend,  dass  man sich kaum traut,  eine abweichende  Meinung  über  eines der   Bücher  zu  äußern.  So schlecht  fand  ich Stefan  Heyms  „5  Tage  im  Juni“  auch  wieder  nicht,  und  dem,  was    MRR  über  „Örtlich betäubt“  von  Günter  Grass    schreibt,    kann  ich  keinesfalls  zustimmen.  Es  war  das  erste anspruchsvolle Buch,  dass ich  mir vor fast vierzig Jahren von meinem Taschengeld  gekauft habe, und es hat mich immerhin zur Literatur  geführt.  Dass MRR dieses Buch in Grund und Boden  stampft, hat er jedenfalls  nicht in meinem Namen  getan,  und ich  gehöre  auch zum Publikum.  Auf der anderen  Seite muss man aber auch zugeben,  dass es ein Segen  ist,  dass auch  in  unseren  durchgeknallten  Zeiten  noch  eine  Autorität  mit    Geist  und  Reputation existiert, die das Paradoxe paradox und das Skurrile  skurril nennen kann.  Man lese  dazu nur in  dem  vorliegenden  Buch  die Kritik  an    dem  Theaterstück  „Trotzki  im  Exil“  von  Peter Weiss, einem Bühnenwerk,  das die Weltrevolution  und das Ende jener  bürgerlichen  Klasse fordert,  die  eben  dieses  miserable  Stück  bei  einer  Premiere  in  Düsseldorf  überwiegend wohlwollend beklatschte.  Warum lassen sich die Besucher so etwas gefallen?  fragt MRR mit Recht  und  schreibt:  ,,Man  speit  sie an,  und  sie tun,  als  wäre  es ein harmloser  und  lieber Regenschauer.  Der Grund ist einfach:  sie halten,  das,  man ihnen bietet,  für Literatur.“(S.97). Bravo, Marcel, kann man da nur sagen, die Lektüre  dieser einen Kritik lohnt  den Kauf des . ganzen Buches.

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