Reich-Ranicki: Mein Leben

Reich Ranicki Mein LebenAm 2. Juni 1920 wird Marcel Reich in Wloclawek/Polen als Sohn einer gebildeten jüdischen Familie geboren. Er wächst im damals gleichermaßen deutschen- und judenfeindlichen Polen auf und übersiedelt zusammen mit der Familie im Jahre 1931 nach Deutschland, ‚in das Land der Kultur‘, wie ihm seine Lehrerin mitgibt. Hier erschließt sich dem jungen Marcel die Offenbarung seines Lebens: das deutsche Theater und die deutsche Literatur, die sich sogar noch nach der Machtergreifung der Nazis als ein Refugium von Geist und Moral behauptet. ( vgl. etwa S.137: den Bericht über die Inszenierung von ‚Richard III‘ als Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaft). So bedrohlich sich auch im öffentlichen Leben die Schlinge um die jüdischen Existenzen in Deutschland zusammenzog, so sehr schöpfte der junge Marcel so lange es nur ging, Kraft und Zuversicht aus den Werken von Shakespeare, Thomas Mann, Goethe, Lessing und all den anderen, die keiner Nation sondern nur der Menschheit angehörten. Selbstverständlich wird er als Student Ende der Dreißiger Jahre ‚als jüdisch‘ abgelehnt, doch noch ehe er sich von der Enttäuschung über diese Absage erholt hatte, schlug der Terrorstaat zu: die Familie Reich wurde nach Polen deportiert, wo die Eltern ermordet wurden und wo der junge Marcel mit seiner Frau Tosia in einem Versteck bei dem polnischen Bauernpaar Bolek und Genia überlebte. Diesen beiden erzählt er an langen Winterabenden zwischen Angst und Langeweile die Dramen und Romane der Weltliteratur, König Lear, Effi Briest, Kabale und Liebe. Mit dem Einmarsch de Roten Armee in Polen ist Marcel frei, er wird Kommunist, Mitarbeiter im Partei- und Staatsapparat und als solcher auch in das allgegenwärtige Spitzelwesen integriert. So gut er kann versucht er sich als Literaturkritiker und Rezensent, doch er gerät in die Turbulenzen der Säuberungen, wird verhaftet, aus der Partei ausgestoßen und wandert schließlich 1958 nach Deutschland aus. Nun ist er 38 Jahre alt (das Buch ist schon auf Seite 395 von ca. 550 Seiten angekommen), doch niemand konnte ahnen, welche sagenhafte Karriere nun beginnen sollte. Irgendwie standen ihm alle Türen offen, er kam zur FAZ und wollte schreiben, bitte schön, er kam zur Welt und durfte rezensieren, Siegfried Lenz öffnete ihm die Zugänge zum Rundfunk, und er erhielt schon 1959 einen festen Vertrag als Literaturkritiker der ZEIT, die ihm aber, wie er im Abstand eines Menschenalters ein wenig moserig bemerkt, nie eine wirkliche Führungsposition angeboten hatte. Trotzdem wurde er schnell ein Teil der literarischen Szene, die in den frühen Sechziger Jahren von der Gruppe 47 um Richter, Grass, Walser und andere geprägt wurde. Walter Jens und Hans Joachim Fest wurden seine engsten Freunde, jeder von ihnen ebenso wie er ein Unikat im Reich des Geistes, und mit Hans Joachim Fest, der 1973 Herausgeber der FAZ wurde, geht MRR nach Frankfurt und wird Literaturchef der FAZ. In dieser Position wird er, obwohl bereits anerkannt und berühmt, zum unumschränkten Literaturpapst der deutschen Sprache, als der er heute noch herrscht und redigiert. Was war das Geheimnis meines Erfolges, fragt er sich selbst ein wenig Selbstversonnen und antwortet: Immer an den Leser denken, nie langweilig sein, keine Gefälligkeitsrezensionen schreiben und auch die Großen des Faches nicht schonen, wenn sie Murks fabrizierten. Und auch die größten der Großen, so erfährt man in diesem Werk, sind vor Murks nicht gefeit, mehr noch: sie sind auf eine gotterbärmliche Weise eitel, wenngleich jeder auf eine andere Weise: Adorno wollte die pfauenhafte öffentliche Verehrung, Canetti die religiös angehauchte stille Devotion der Jünger (S.4599; und ‚ diese Anmerkung sei gestattet ‚ auch die Eitelkeit MRRs bleibt dem Leser nicht verborgen. ‚Sonderbar‘, heißt es auf S. 469, ‚wieder einmal musste ich andere belehren, ohne selbst etwas gelernt zu haben.‘ MRR trifft Thomas Bernhard, Wolfgang Koeppen, Nelly Sachs, Erika und Golo Mann, die Meinhof und viele andere große und kleine Sternchen des Kulturbetriebes, und ein jeder (außer Koeppen ) erhält sein Fett weg Aber auch Enttäuschungen bleiben nicht aus: die Freundschaft mit Jens zerbricht, ohne dass klar würde, warum, auch die Verbindung mit Fest geht wegen des Historikerstreites in die Brüche. Häme, Feindschaft und ‚das Ende der Schonzeit ‚ bleiben nicht aus, doch die Liebe zur Literatur und zu einem neuen, nach dem zweiten Weltkrieg gereiften Deutschland bleibt. Alles in allem ein kurzweiliges und großartiges, stilistische ausgereiftes und lehrreiches Werk, das das Genre von Erzählung, Kritik und Reflexion weit übersteigt und dass auch diejenigen begeistern wird, die mit seinen Verrissen nicht immer einverstanden waren. Hut ab und fünf Punkte für Marcel.

Kommentar verfassen