Riccarelli: Der vollkommene Schmerz

Schon auf den ersten Seiten des vorliegenden Buches spürt man: Hier erzählt ein Dichter mit Zeit und langem Atem die Geschichte einer ganzen Epoche und eines ganzen Landes – und zwar ausnehmend unmodern, das heißt: so anschaulich und metaphernreich wie man es kaum noch zu lesen bekommt.

Schauplatz der Handlung ist Colle Alto, ein kleiner Ort in der Toskana, der im späten 19. Jhdt. gerade erste seinen ersten Eisenbahnanschluss erhält, als der „Maestro“, ein junger Lehrer aus dem Süden Italiens, im Dorf eintrifft, sich in die schöne Witwe Bartoli verliebt und mit ihr drei Kinder zeugt. Nicht weit von Colle lebt der resolute Schweinezüchter Odysseus Bertorelli, der seine Frau Rosa wie eine Zuchtsau  auswählt und mit ihr die Zwillinge Sole  und Annina in die Welt setzt.  Die Bartoli und die Bertoerellis sind die Protagonisten des vorliegenden Romans, im Geschick dieser Familien spiegelt sich Liebe und Leid der Epochen.

Während der „Maestro“ sich über die herrschende soziale Ungerechtigkeit im neu gegründeten Italien empört und als Anarchist am Umsturz der Verhältnisse arbeitet, gerät die ehe des wackeren Schweinezüchtern Odysseus Bertorelli und seiner Frau Rosa schnell in eine Schieflage: Sensibilität und Schweinezucht, Himmel und Erde kommen im Hause Bertorelli nicht zur Deckung, und  obwohl Kind auf Kind geboren wird und obwohl Odysseus zusammen mit seinen Brüdern Hektor und Telemach immer erfolgreicher wirtschaftet und mit ihnen gemeinsam ein großes Gut bezieht, kann er die Liebe seiner Frau nicht mehr zurückgewinnen.   Eines Tages brennt die Mutter mit dem Puppendoktor einfach durch, und der Vater geht an seiner Vereinsamung zugrunde. Er erhängt sich mit den Gedärmen seiner Zuchtsau, nicht ohne Vorher im Wahn seine altjüngferliche Schwägerin Mero zu vergewaltigen, die neun Monate später den kleinen Äneas zur Welt bringt.

Derweil wird der  der „Maestro“  als Anarchist bei einer  Demonstration in Mailand erschossen. Sein ältester Sohn Ideale (I)war schon vorher als Priester aus dem Dunstkreis des Vaters ausgetreten, anders als der jüngere Sohn Michael, der den Fußstapfen des Vaters  folgt und folglich erschossen wird. Am Ende wandert die Witwe Bartoli  gramgebeugt „im vollkommenen Schmerz“ nachts durch die Dörfer. Bei einem solchen Rundgang wird sie von der Eisenbahn erfasst und getötet, während ihr Baby Cafieri auf wundersame Weise überlebt.

Im ersten Weltkrieg wird es dann noch düsterer. Ab 1915 sterben die jungen  Männer wie die Fliegen  oder kommen fürs Leben verletzt zurück, die Wohlhabenden bereichern sich, die sozialen Gegensätze nehmen zu. Als dann auch noch die Spanische Grippe nach dem ersten Weltkrieg über das erschöpfte Italien herfällt und  ganze Familien ausrottet, hält der Tod auch in der Familie der Bertorellis  reiche Ernte.

Inmitten all dieser Umbrüche heiratet  Annina Bertorelli den inzwischen aufgewachsenen jungen Cafieri Bartoli, der seinem Vater,  dem erschossenen „Maestro“ aufs Haar gleicht. Hektor und Telemach Bartorelli, die reichen Brüder des verstorbenen Odysseus, brechen daraufhin den Stab über ihre Nichte. Gleichzeitig unterstützen sie die Etablierung einer brutalen Schlägertruppe, die sie und andere Wohlhabende vor der befürchteten Machtergreifung der radikalen Linken schützen soll. Mit Hilfe dieser Schlägertruppen wird Telemach Bartorelli, Annina machtgieriger Onkel, zu einem typischen faschistischen Bürgermeister, der nicht davor zurückschreckt, seine Gegner mit Gewalt zu beseitigen. So wird Ideale (I) Bartoli, der sich als Priester für die Armen engagierte, ebenso ermordet wie sein jüngerer Bruder Cafieri, der Ehemann Annina Bertorellis. Diese, die in der kurzen Zeit ihrer Ehe mit dem ermordeten Cafiere drei Kinder zur Welt brachte, muss in ihrer Not als Dienstmagd in das Haus ihrer Onkel zurückkehren, um ihren Kindern, dem herzkranken und intelligenten Sole (II), dem technisch   hochbegabten Ideale (II) und die kleine Filomena den Lebensunterhalt zu sichern.

So vergehen die dreißiger Jahre. Telemachs Adoptivsohn Äneas wächst im Haus seines Adoptivaters Telemann Bartorelli vollkommen verzogen auf und entwickelt sich zu einem Monster. Annina Sohn  Sole (II) wächst heran und verliebt sich in die Nachbarin Natalie. Der zweite Sohn, der  agile Ideale (II) entpuppt sich als ein Genie des Maschinenbaus. Der Zweite Weltkrieg fegt dann alle sich andeutenden Ordnungen hinweg. Ideale (II) verschwindet an der Ostfront, sein Cousin Äneas entpuppt sich in der Endphase des italienischen Faschismus als Psychopath der schlimmsten Sorte, erschlägt seine Stiefmutter und sorgt dafür dass noch kurz vor dem Einmarsch der Alliierten  sein Cousin Sole (II) verhaftet und erschossen wird.  Der Rest des Buches, der in die Gegenwart überleitet,  ist ein einziger langer Abspann, dessen Einzelheiten dem Buch nichts Wesentliches mehr hinzufügen.

Die in dem Buch immer wieder gebrauchte Metapher vom „vollkomme Schmerz“ erscheint wie eine Chiffre für die zunehmende Verdüsterung aller Verhältnisse, die sich in der Moderne über das Gemüt und die Lebenswelt der Menschen legen, verursacht durch den allgemeinen Wandel, der die Menschen erst langsam, dann immer schneller wie eine gigantische Zentrifuge erfasst und alle etablierten Ordnungen zerstört. Der Bau der Eisenbahn, der Erste Weltkrieg, die Spanische Gruppe, die Trockenlegung der Sümpfe, die Industrialisierung und der Zweite Weltkrieg lassen kein Leben unberührt. Niemand kann sich diesem Hammerschlag der Geschichte entziehen, und die Individualität der Personen erscheint mitunter nur noch als die jeweils besondere Schattierung, die der „vollkommene Schmerz“ im Leben des Einzelnen annimmt.

Soweit so poetisch. Bei der Lektüre des Buches habe ich aber eine weitere Leseerfahrung gemacht.  Zuerst war ich von dem gehobenen Ton und  der geschliffenen Sprache angetan, dann merkte ich, dass der  gehobene Ton zu langsamer Lektüre zwingt, so dass man ein wenig wie mit er Handbremse lesen muss, was  auf die Dauer ermüdete. Je mehr ich las, desto mehr erschien mir die Sprache des vorliegenden Buches wie süßer Likör, von dem man auch nicht zu viel auf einmal zu sich nehmen kann. (Dementsprechend habe auch ich immer nur 50 Seiten pro Tag gelesen). Nach sechs oder sieben Tagen war die Freude an dem hyperpoetischen Stil ganz verschwunden, und ich ertappte mich dabei, reichlich Seiten voller Stimmungsschilderungen zu überschlagen, um zu erfahren, wie die Geschichte weitergeht.  Am Wende finde ich: Gute Story, beachtliches episches Format, aber sprachlich vielleicht doch ein wenig zu „sahnig“, so dass die Gefahr besteht, lange vor der Zeit literarisch „satt“ zu werden.

Kommentar verfassen