Roth: Die Flucht ohne Ende

Roth Flucht ohne Ende ndexZu den überraschendsten Erkenntnissen einer zweiten Buchlektüre gehört es, dass man offenbar ein ganz anderes Buch in der Erinnerung gespeichert hatte, als das, welches man nun liest. Ich hatte die  „Flucht ohne Ende“ das erstemal als Student gelesen, und behalten hatte ich vor allem die Weltkriegsteilnahme und die anschließende sibirische und kauskasische Odyssee des Oberleutnant Franz Tunda.

Bei der zweiten Lektüre stellte ich allerdings fest, dass diese Odyssee bei weitem nicht einmal die Hälfte des Buches ausmacht. Denn schon auf Seite 65 ist Tunda wieder in Europa und fragt sich „Warum habe ich Russland verlassen?“. Das möchte der Leser auch gerne wissen, doch eine wirklich überzeugende Antwort gibt es darauf nicht. Stattdessen beginnt Tunda, der jahrelang relativ zufrieden und gelassen in den unendlichen Weiten des Ostens lebte, nun bei seinem Bruder in einer deutschen Stadt X am Rhein, in Wien und Paris nach seiner Vorkriegsverlobten Irene zu recherchieren, die inzwischen längst einen anderen Mann geheiratet

So schließen sich an die sibirische und kauskasische Reise Franz Tundas noch einmal 90 Seiten einer Reise durch die europäische Gegenwartsgesellschaft an ( der ganze Roman umfasst ohnehin nur etwa 160 Seiten!), Heimisch werden kann der passive Tunda nirgendwo,  seine Suche nach Irene ist nur das Symptom seiner inneren Heimatlosigkeit. Ebenso wie Joseph Roth selbst ist auch Franz Tunda nirgendwo wirklich zuhause, aber doch untrennbar mit dem Europa verbunden, in dem er sich gerade befindet. „Er hatte keine Sehnsucht nach der Taiga. Hier, so schien es ihm, war sein Platz und sein Untergang. Er lebte vom Geruch der Fäulnis, und er lebte vom Moder, er atmete den Staub der zerfallenden Häuser und lauschte mit Entzücken dem Gesang der Holzwürmer.“(S. 159)

Die stärke des vorliegenden Buches liegt also wie so oft bei Roth nicht eigentlich in der Handlungsführung sondern in der unnachahmlichen Sprache, mit der der Autor seinen österreichischen Oblomow auf Reisen schickt. Mit dem Augen Franz Tundas lernt der Leser die Verwerfungen und Paradoxien der Moderne kennen, die linken Schriftsteller, die talentlos und dreist sind, aber schlau genug,, die „Dummheit hinter der kommunistischen Gesinnung zu verbergen und die Faulheit mit der Politik zu entschuldigen“ (107), die perversen und korrupten Eliten, die deutschen Städte mit einer „Atmosphäre von Sonntagsfreude, Becherklang, Steinkohle, Industrie, Großstadt und Gemütlichkeit.“(81), die Salondamen, die hypergesunde aber gedankenlose Jugend, die assimilieren Juden und  die Spießigkeit der  bürgerlichen Ehe.

So ist das vorliegende Buch auch als eine Zivilisationskritik zu lesen, als die Reise eines Heimatlosen durch eine Gegenwart, in der er den Boden unter den Füßen verloren hat. Denn was Tunda sucht und natürlich nicht mehr finden wird, ist nicht Irene, sondern die   versunkene bürgerliche Welt, in der er als Oberleutnant mit der hübschen Tochter eines Bleistiftherstellers verlobt war. Am Ende bleibt Tunda bleibt allein. „So überflüssig wie er war niemand in der Welt.“ Mit diesem Satz endet das Buch.

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