Roth: Empörung

Um zwei Themen kreisen fast alle Werke der Literatur: um die Liebe und um den Umgang zwischen den Generationen. Warum also noch ein Buch über dieses Thema? Die Antwort: Weil es so viele Nuancen dieses Themas gibt wie Menschen, die sie erleiden, und weil jede gute Geschichten darüber es wert ist, erzählt zu werden.

Im Mittelpunkt des vorliegenden Romans steht Marcus,  ein junger Mann, der sich viel darauf zugute hält gerade heraus und ehrlich zu sein. Marcus ist zwar Jude, hat aber mit Religion nichts am Hut, stattdessen ist er korrekt und strebsam bis zum Exzess, zuerst als Gehilfe seines Vaters, einem koscheren Metzger aus Newark, dann in der Schule und schließlich  auf dem College. Eigentlich hat Markus eine glänzende Karriere vor sich, dann aber kommt doch alles ganz anders – und am Ende ist er tot.

Wie es dazu kommt, soll nicht verraten werden, doch auf dem Weg in dieses Verhängnis passiert der junge Marcus all die  anthropologischen Schleusen, die jeder Jugendliche auf seinem Weg ins Erwachsenensein bewältigen muss: das Verhältnis zu den Eltern, das Verhältnis zu den Autoritäten, das Verhältnis zum anderen Geschlecht. Wie Roth diese archetypischen Konstellationen szenisch und dialogisch ausarbeitet, gehört für mich zu den  Meisterleistungen der literarischen Miniatur. Man lese nur das Gespräch des Sohnes mit seiner ans Krankenbett geeilten Mutter: wie der junge Markus seiner Mutter aus einem Fachbuch vorliest und diese zwar nichts versteht, aber glücklich darüber, dass der Sohn offenbar etwas lernt, selig entschlummert, hat etwas ungemein Rührendes. Die außerfamiliären Autoritäten treten dem jungen Markus in Gestalt des „Deans“ (einer Art Collegevogt)  gegenüber, der Markus einem inquisitorischen Verhör unterwerfen will, dann aber vom geistig ungemein regen Jungstudenten intellektuell den Kopf gewaschen bekommt (Bertrand Russel lässt grüßen). Am ergreifendsten aber – wie könnte es anders sein –  ist Markus Begegnung mit dem anderen Geschlecht, sprich mit der Liebe. Wie eine verlockende Prinzessin erscheint dem scheuen Studenten die schöne Kommilitonin Olivia, die  dann aber dem noch jungfräulichen Marcus schon beim ersten Rendezvous ohne großes Federlesen gleich einen „bläst“.  Kein Wunder, dass dieses Erlebnis den biederen Markus fast aus der Bahn wirft, auch deswegen, weil er längst sein  Herz an dieses Mädchen verloren hat.

So geht das 195 unterhaltsamen Seiten lang, bis das Buch nach einem hormonbedingten Aufruhr der männlichen Collegestudenten etwas abrupt endet. Erst auf den letzten fünf Seiten des Romans wird klar, dass  die gesamte Erzählung, die der Leser bis hierhin gelesen hat eine Art morphiumverursachte Erinnerungsüberflutung des sterbenden Marcus darstellte.  Denn „der Junge der immer alles richtig machen wollte“, war am Ende dabei  ertappt worden, den Gottesdienstbesuch im College   zu schwänzen, so dass er relegiert und dann nach als Wehrpflichtiger nach Korea ( wir schrieben das Jahr 1952 ) verschickt wurde. Dort erleidet er einen elenden Tod, sein Vater überlebt die Nachricht nur achtzehn Monate, seine Mutter dagegen überstand auch diesen Schlag und wurde fast einhundert Jahre alt.

Eine tragische Geschichte fürwahr –  wie aber ist sie erzählt? Mit einem Wort: meisterhaft.  Alles wird stringent aus Marcus  Perspektive berichtet, so dass wir seine Eltern, den Dean, seine Mitstudierenden und die schöne Olivia nur mit seinen Augen sehen  – und darauf hereinfallen. Das Outing der verlockenden Olivia von der wunderschönen jungen Frau zum seelischen Wrack erschließt sich nur Schritt für Schritt, am Ende aber umso eindringlicher. Und dann Marcus: er, der so stringent seinen Prinzipien folgte und alle Kompromisse ablehnte, hat sie nur einmal verraten, als er sich beim Gottesdienst vertreten ließt – und das wird ein Untergang. All das erkennt der Leser erst ganz am Ende des Buches, als die verschiedenen Fäden des Romans sich zu dem Knoten ver, der dem jungen Mann das Leben kosten sollte. Von der ersten bis zur letzen Seite ein sprachlich ausgefeilter und fesselnder Generationen- und Liebesroman der  Spitzenklasse. Nur was der Titel „Empörung“ bedeutet, ist mir bis zum Schluss unklar geblieben. Marcus ist bestimmt kein „Empörer“, viel eher ist die Geschichte selbst „empörend“ – wenn man die Sentenzen über Bertrand Russel liest, ist man fast geneigt, zu sagen:  „empörend“ gegenüber einem vermeintlichen Gott, der solche Tragik zulässt.

Kommentar verfassen