Schalansky: Der Hals der Giraffe

Der erste Eindruck von diesem Buch war eine Wucht. Was für eine knackige Sprache, welche zupackenden und zugleich bizarren Formulierungen, was für eine morbide Atmosphäre. Eine alternde Biologielehrerin, die sich dem ganzen Gutmenschengetue versagt, das Exemplar einer aussterbende Pädagogenspezies, die all das ausspricht, was sich so mancher Lehrer insgeheim schon des Öfteren über den sich anbahnenden Zusammenbruch der intergenerativen Kulturweitergabe gedacht hat.

Um was geht es? Inge Lohmarck (55) unterrichtet  in einer 9. Klasse nur noch zwölf Schüler in einer vorpommerschen Schule, die in wenigen Jahren abgewickelt werden wird. Denn die Zivilisation wird eingemottet in Vorpommern, die Menschen hauen ab, heiraten nicht mehr, und wenn, dann bekommen sie nicht mehr genügend Kinder. „Es war nicht zu übersehen, dass die Flora auf der Lauer lag. In Gräben, Gärten und Gewächshauskasernen wartete sie auf ihren Einsatz. Schon bald würde sie sich alles zurückholen. Die missbrauchten Territorien mit ihren sauerstoffproduzierenden Fangarmen wieder in Besitz nehmen“(S. 69) Dieses Zitat ist nur ein Beispiel für die  konsequent biologistische Sichtweise der Hauptperson:   alles, was Frau Lohmarck sieht, das Hopsen der Schülerinnen beim Langlauf, die Hängebacken des feisten Tom, das Wuchern des Unkrauts in verlassenen Gärten, der Flug der Störche oder die Verirrung der Fledermaus sind nur Variationen eines großen biologischen Drehbuches, in dem die Natur sich selbst vollstreckt, in dem der Stärkste siegt und in dem für Gefühle und Schwäche kein Platz ist.  Die Autorin Judith Schalansky auf der Höhe eines intelligenten, fast karikierenden Stils trägt allerdings dabei bei der Beschreibung ihrer Hauptperson so dick auf, dass auch für den einfältigsten Leser bald klar wird: diese Person soll kein Sympathieträger sein.  Soweit mein erster Eindruck.

 

Mein zweiter Eindruck: ich war gespannt, wie es weitergeht. Wie sich die Geschichte entwickelt, denn immerhin war nicht nur ein „Roman“ sondern sogar ein „Bildungsroman“ angekündigt. Der Klappentext jedenfalls machte neugierig: da war von plötzlich aufkeimenden „Gefühlen für eine Schülerin der 9. Klasse“ die Rede, und man durfte gespannt sein, wie sich dieser Konflikt zwischen einer reichlich erratisch gezeichneten Kunstfigur und einem lebendigen Wesen entwickelt würde. Um gleich die Antwort zu geben: er entwickelt sich überhaupt nicht. Wenn nicht der Klappentext den Leser mit der Nase darauf stoßen würde, hätte man die Episode, um die es geht, glatt überlesen: nach etwa Dreivierteln des Buches wird Inge Lohmarck auf die Schülerin Erika aufmerksam, dann nimmt sie die Schülerin mit dem Auto mit zur Schule ( S. 178-181), und das war es dann auch. Es ereignet sich  überhaupt keine Auseinandersetzung, keine Handlung, kein Konflikt, allenfalls die Erinnerung an Inge Lohmarcks gefühlloses Verhalten ihrer Tochter gegenüber könnte man noch zu der Erika-Episode in Beziehung setzen. Aber das war es dann auch.

 

War mein zweiter Eindruck als eher der einer Enttäuschung, blieb mir am Ende nur Verwunderung. So locker und  blitzgescheit sich alle Seiten des vorliegenden Buches lesen – so ist es mir doch schleierhaft, was an dem „Hals der Giraffe“ ein Bildungsroman sein soll. Es kann sich wohl kaum um  den Bildungsroman von Inge Lohmarck handeln, dafür sind die Rückblicke zu kursorisch, es kann sich auch nicht um den Bildungsroman von Erika handeln, dafür ist diese Figur viel zu marginal. Ich glaube auch nicht, dass es sich etwa um einen  Bildungsroman des Menschen als Naturwesen handelt, dafür wird diese Perspektive in ihrer krassen Überzeichnung doch zu sehr ins Kuriose gerückt. Sollte es sich wirklich bei dem Etikett „Bildungsroman“ nur um eine Anspielung darauf handeln, dass es sich hier um einen Schulroman handelt?

 

Wie aber steht es mit der glaubhaften Psychologie der Figuren und der Handlung? Leider auch nicht besser. Sowohl die Kollegen wie die Schüler bleiben nebulös, es sind Projektionen, Abziehbilder, die nicht selbstständig handeln sondern  nur auf Frau Lohmarcks Befehle reagieren. Und der Ehemann,  der erfolgreiche Straußenzüchter tritt überhaupt nicht auf.

So mündet am Ende schließlich mein vierter Eindruck in eine gewisse Gelangweiltheit. So kurz dieser „Roman“ auch daherkommt ( 222 Seiten fast in Großbuchstaben für Leute, die ihre Brille verlegt haben) so hätte es auch die Hälfte getan. Hier wurde die Chance zu einer erstklassigen Kurzgeschichte zugunsten einer am Ende reichlich mäandernden Konstruktion vertan.

 

Umso erstaunlicher erscheint mir nach der Lektüre des Buches die Begeisterung des Feuilletons. Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen wurde das kleine Werk mit seinen Zeichnungen  wie eine Offenbarung gefeiert – und zwar in eine meiner Ansicht nach ganz falschen, aber bezeichnenden Richtung. Eine autoritäre Lehrerin, die auch noch biologistisch vernagelt ist, die darwinistische Karikierung von Erziehgun als reine Auslese ist  das Rezept, um in den angesagten Feuilletons sperrangelweite Türen einzulaufen. Mit dem Inhalt des Buch hat all das, was ich in den Kritiken gelesen habe (mit Ausnahme der kundigen Kritik bei 3 SAT Kulturzeit ) nichts zu tun. Auch die Autorin kann dafür wahrscheinlich nichts, wenngleich dieser Hype sicher ausschlaggebend für den Erfolg des Buches ist.

 

So bleibt am Ende ein zwiespältiger Gesamteindruck. Als etwas lang geratene Kurzgeschichte (für einen fast unverschämten Preis von 21,90 Euro!) liest sie sich in wenigen Stunden locker durch. Leider geht es nach einem furiosen Anfang nicht mehr weiter, und der so viel versprechende Anfang des Buches endet,  um in der Terminologie des Werkes zu bleiben, in einer literarischen Sackgasse. Empfehlenswert nach meiner Meinung vor allem für pädagogische Fossilien kurz vor der Pension , die Inge Lohmarck insgeheim zustimmen und für Biologie-Referendare zur Auffrischung ihres Fachwissens

 

 

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