Scholl-Latour: Im Fadenkreuz der Mächte. Gespenster auf dem Balkan

Scholl Latour BalkanAnderthalb Jahrzehnte ist dieses Werk über die Bürgerkriege und Konflikte auf dem Balkan inzwischen alt – lohnt es sich überhaupt noch, ein solches Buch zu lesen? Immerhin haben sich die Verhältnisse auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien auf den ersten Blick seit 1994 gewaltig geändert. Kroatien wird trotz seiner gewaltigen privaten Verschuldung im nächsten Jahr in die EU aufgenommen, der Kosovo wurde von Serbien abgespalten und als unabhängiger Staat anerkannt, und der serbische General Mladic, von seinen eigenen Volksgenossen ausgeliefert, steht inzwischen in Den Haag als Kriegsverbrecher vor Gericht.
So weit, so oberflächlich.
Denn gerade das vorliegende Buch mit seinen ausführlichen historischen und religionsgeschichtlichen Exkursen zeigt, dass die Gegensätze zwischen den Völkern des Balkan tief in der Geschichte wurzeln und durch ein Peace-Keepings-Intermezzo ganz bestimmt nicht ausgeräumt werden können. In den ausführlichen Kapiteln über Serbien, Kroatien, Albanien, Moldawien, Mazedonien und Bosnien (und die Türkei) taucht der Autor tief ein in die verwickelte Geschichte des Balkans, die für Scholl-Latour vor allem eine Geschichte der religiösen Spaltungen und Synkresien ist. So erscheinen die sogenannten „Nationen“ oder „Ethnien“ bei genauer Betrachtung im Kern als nichts weiter als Geschöpfe von Sprache und Religion – auch wenn das die betroffenen Völker nicht so gerne hören möchten.
Die Griechen? Nach Scholl-Latour alles andere als Nachkommen der stolzen Hellenen – in Wahrheit handelt es sich um eine slawisch-albanische Mischbevölkerung, der allein die Jahrtausende alte orthodoxe Kirchenhierarchie Sprache, Ritus und Identität verlieh. Noch heute gilt jeder Angehörigen der griechisch-orthodoxen Kirche für die Griechen als Grieche, auch wenn er Albaner (wie die Griechen im Süden Albaniens) oder Slawe (wie die Mehrheitsbevölkerung von Saloniki) sind.
Wie wurden die Serben zu Serben und vor allem wie bewahrten sie ihr Serbentum? Durch die Missionierung aus Byzanz und die Errichtung einer autokephalen orthodoxen Kirche, die sich unter Zar Stefan Dusan im 14. Jhdt. von Konstantinopel lossagte. Die Kroaten; von den Serben äußerlich und sprachlich kaum zu unterscheiden, wurden zu den Antagonisten der Serben nur durch die religiöse Signatur und kulturelle Prägung des Katholizismus. Die Bulgaren? Nichts weiter als eine kleine tatarische Kriegerschicht, die in den slawischen Menschenmassen des östlichen Balkans aufgingen und nur ihren Namen hinterließen. Die Bosnier sind nichts weiter als die Nachfahren jener südslawisch-christlichen Bogoumilensekte, die als Reaktion auf ihre permanente Unterdrückung durch die Amtskirche am Beginn der Türkenzeit einfach zum Islam übertrat. Die Albaner dagegen, die einzige klar unterscheidbare Ethnie des Balkan, traten als einziges europäisches Volk mehrheitlich zum Islam über, weil sie die Majorisierung durch die griechisch-orthodoxe Kirche nicht weiter erdulden wollten. Mazedonen? Die gibt es gar nicht, sie sind nichts weiter als eine Mischung aus bulgarischen und serbischen Südslawen, als politisches Gebilde entstanden nur aus Augenblickserwägungen des jugoslawischen Diktators Tito im Zuge des griechischen Bürgerkrieges nach dem 2.Weltkrieg. Mit Alexander dem Großen, nach dem die sogenanntne Mazedonier ihren Flughafen in Skopje benennen, haben sie rein gar nichts zu tun.
Das sind nur einige der Perspektiven, die Scholl-Latour gleichsam nebenbei in seinen ausgedehnten Reflexionen entwickelt. Mindestens genauso lesenswert sind die anschaulichen Schilderungen der Lage vor Ort – der Not, der Korruption, der Findigkeit der Menschen und vor allem der Blindheit der internationalen Friedenskontingente, die von nebulösen Utopien geleitet, alles nur noch schlimmer machen. Wie immer nimmt Scholl-Latour bei seinen Betrachtungen kein Blatt vor den Mund: für den Dilettantismus der UN-Bürokraten hat er nur Spott übrig, während ihm ehrlicher Einsatz wie etwa der des ehemaligne Bremer Bürgermeisters Hans Koschnick echten Respekt abnötigt. Schier unübersehbar ist die Zahl der Gewährsleute, Gesprächspartner und Zufallsbekannten, bei denen Scholl-Latour auf seinen ausgedehnten Reisen zwischen den Fronten trifft: Mullah und Pope, Bischof, Tschetnik, Flüchtling und Bodyguard erhalten in dem vorliegenden Buch ihre Stimme, und der Autor ist fair genug, den Kontext eines jeden für den Leser nachzuzeichnen. Partei bezieht Scholl Latour nicht für oder gegen ein Volk oder eine Religion – sondern immer gegen die Verbrecher und Killer, die es auf allen Seiten gibt. Dass nur ein Jahr nach dem Erscheinen des Buches die Balkangräuel mit dem Massaker von Srebenitza einen weiteren Höhepunkt erreichten wird nach der Lektüre des Buches rückwirkend niemand mehr erstaunen.
Ein erstklassiges, stilistisch ausgefeiltes und sachlich profundes Werk, das ich als Vorbereitung für eine Südbalkanreise mit großem Gewinn gelesen habe.

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