Sloterdijk: Von pseudonymer Politik. Über einige weit verbreitete Missverständnisse der Demokratie

Der folgende Beitrag erschien in dem Sammelband „Die Zukunft der Demokratie“, hrgg. von Friedrich Wilhelm Graf u.a.  

„Im Folgenden gehe ich der Vermutung nach, dass die Existenz unter falschen Pässen in der jüngeren Geschichte nicht nur auf volatile Einzelne zutrifft, die Gründe haben, ihre wahre Identität zu verbergen, sondern auch auf die Daseinsweise der modernen Politik im Ganzen, sofern diese sich in der Regel unter re-aktivierten antiken Namen wie `Republik´ und `Demokratie´ präsentiert.“   So beginnt der Philosoph Peter Sloterdijk seinen demokratietheoretischen Beitrag „Von pseudonymer Politik“ im  Sammelband „Die Zukunft der Demokratie“. Ein sperriger Titel für ein mehr als aktuelles Thema. Man darf gespannt sein.

Ausgangspunkt der Sloterdijkischen Betrachtung ist die Kennzeichnung der Demokratie als eine Art Mimikry für das blöde Volk.  „Pseudonym“ heißt, dass sich diese Mimikry einfach falscher (pseudonymischer) Namen bedient, die dem Volk ein x für ein u vorgaukeln.   Pseudonyme Demokratie-Mimikry vollzieht in vier Formen, als „Oligokratie, Fiskokratie, Mobokratie und Phobokratie. In ihnen verkörpern sich gleichsam die abgedunkelten Partialtriebe der nominellen Demokratien.“

Unter „Oligokratie“ versteht Sloterdijk ein System, in dem die wenigen Repräsentanten an den Hebeln der Macht sitzen und die Vielen ihre Partizipation auf das Kreuzchen begrenzen müssen. Dieses Problem wird aber entschärft, wenn die Wenigen nach Meinung der Vielen ihre Aufgabe gut erfüllen – und wenn sie gelegentlich ausgetauscht werden können. Die Schumpetersche Demokratietheorie lässt grüßen. Genau da liegt aber der Hund begraben, denn nichts hasst eine Elitenfraktion mehr als ihren Abschied von der Macht, so dass sie alles dafür tut, dieses Missgeschick möglichst zu vermeiden – und sei es durch Kartellbildung mit anderen Parteien.  Ein Schelm, wer hier an das unser Parteien-Establishment denkt.

Anhand seines Begriffes der „Fiskokratie“  unterwirft Sloterdijk die neuzeitliche Geschichte einem eigenwilligen Framing. Danach waren die modernen neuzeitlichen Revolutionen nichts weiter als die Implementierung einer allgemeinen Besteuerung im Interesse des sich machtvoll entfaltenden Staates. Bei Sloterdijk hört sich das folgendermaßen an: „In Wahrheit erwies sich die (Französische) Revolution als eine Operation zur Einsetzung eines brachialen Fiskalregimes hinsichtlich der vormals steuerflüchtigen Stände: Ohne das geringste Zögern konfiszierte die zu sich erwachte Nation die Kirchenvermögen und verhökerte sie nach dem Prinzip des Zuschlags an den Meistbietenden.“ Das hat natürlich seine Gründe, denn: „Da der moderne Staat, in Ermangelung ausplünderbarer Nachbarvölker oder kolonialer Peripherien, nicht mehr imstande ist, sich aus externer Beute zu finanzieren (nur Napoleons frühe Feldzüge waren beute-basiert und daher in Frankreich populär), ist er auf die fiskalische Duldsamkeit der eigenen Bevölkerung angewiesen.“ Diese Duldsamkeit ergibt sich auf Dauer dadurch, dass die Besteuerung bald progressiv wird und die Entfaltung des Wohlfahrtsstaates die Massen ruhigstellt.

Die  „Mobokratie“ benennt die dritte Fehlform von Demokratie. Zwei Drittel der Mitglieder der UN sind in Wahrheit „Mobokratien“, d. h. sie  legitimieren sich durch Rückgriff auf den politischen und sozialen Bodensatz der Gesellschaft. Im Westen ist es nicht ganz so schlimm, meint Sloterdijk, aber auch hier gibt es eine mobokratische Gefahr, nämlich den Populismus, der in Großbritannien und den USA bereits zur Herrschaft gekommen sei.  Solch ein Populismus ist eine Sache von „Idioten“, denn  „offenkundig handelt es sich bei den dominierenden Formen des Populismus um Enthemmungs-Phänomene. Durch sie werden die domestizierenden Wirkungen zivilisatorischer Regeln bei großen Zahlen von Bürgern abgebaut. Dank der neuen sozialen Medien müssen sich die Teilnehmer an Enthemmungs-Kommunikationen nicht einmal mehr physisch versammeln, um einen offensiven Mob zu bilden. Spätestens an dieser Stelle beschleicht den Leser ein ungutes Gefühl. Keine Sekunde scheint der Autor daran zu denken, dass „populistische“ Oppositionsbewegungen auch einen realen Grund in Fehlentwicklungen der modernen Demokratie besitzen können, was ja gerade das Thema des Sammelbandes ist, in dem Sloterdijks Aufsatz publiziert wurde. Obwohl er auf Hannah Arendts „Bündnis von Mob und Elite“ zu sprechen kommt,  schweigt er dazu, dasss die Regierungsparteien ( die „Elite“ in einem euphemistischen Sinn) ihre politischen „populistischen“ Gegner durch den „Mob“ (die teilweise staatsfinanzierte Antifa)  gewaltsam aus der Öffentlichkeit herausdrängen lassen.

„Phobokratie“ ist die vierte Fehlform der Demokratie. Sie kennzeichnet die  Praxis der Herrschenden, ihre Herrschaft dadurch zu legitimieren, dass sie den Beherrschten eine bombastisch aufgebauschte Bedrohung  suggeriert  Originalton Sloterdik:  „Die post-demokratische Phobokratie unserer Tage geht darauf aus, unzählige Bürger mit irrealen Bedrohungsgefühlen zu versorgen, indem sie die Aktivitäten einer Handvoll Angreifer zru omnipräsenten Gefahr stilisiert. Terroristen, die auf dem Terrain der westlichen Staaten agieren, können sich fest darauf verlassen, dass die nationalen und internationalen Medien jeden punktuellen Anschlag im Maßstab eins zu einer Million vergrößern.“

Wem würde bei dem Begriff der Phobokratie nicht sofort der grotesk hochstilisierte „Kampf gegen rechts“ einfallen? Doch auch davon ist bei Sloterdijk nicht die Rede.  (Das scheint er für jene „Immunisierung“ zu halten, von der er im vorhergehenden Absatz sprach). Stattdessen beklagt er sich über das Aufbauschen islamistischer Terror Anschläge durch die Presse, was ja gerade nicht der Fall ist. Befremdlich, wie sich hier luzide Begrifflichkeit durch die perspektivische Einseitigkeit um ihre Pointe bringt).

So ist man am am Ende des Aufsatzes enttäuscht, und das aus mehreren Gründen. Zunächst einmal sind die Begriffskonstruktionen und historischen Belege so schief, wie sie nur sein können.  Mobokratie wird als eine Herrschaftsform benannt, die sich des Mobs bedient. Das kann doch unmöglich für die Populisten zutreffen, die doch gerade die Mobokraten bekämpfen. Fiskokratie soll dadurch entstehen, dass die Ausbeutung anderer Völker nicht mehr möglich ist. Das ist doch völliger Unsinn, wie das gesamte imperialistische Zeitalter des späten 19. Jhdt. zeigt (ab 1881 „Struggle for Africa“), das ja erst nach der Etablierung der Fiskokratie begann. Und Phobokraten herrschen nach Sloterdijk durch aufgebauschte Ängste. Aber die Folgen der Migration (nach Sloterdijk eine der Irrlichter phobokratischer Macht) werden doch von unserer phobokratischen Regierung gerade nicht aufgebauscht, sondern bis an die Grenze der Verleugung verharmlost. Auf der anderen Seite fallen Beispiele wie die planmäßig forcierte Corona-Panik und der „Kampf gegen rechts“ unter den Tisch. Hier wie anderswo hat man den Eindruck, dass sich der Autor einfach weigert,  seine Begriffe regierungskritisch auf die aktuelle bundesrepublikanische Wirklichkeit anzuwenden. Man könnte fast von einem Widerstreit zweier Sloterdijks sprechen: dem kreativen Analytiker, der die Schwachstellen der modernen Demokratie begrifflich klar benennt,  und dem ängstlichen Schleimer, der streng darauf achtet, die kritische Potenz seiner Begriffe nicht gegen die bundesrepublikanischen „Phobokraten“ zu wenden.  Handelt es sich bei diesem freiwilligen Bückling des Autors um einen Spezialfall der Unterwerfung unter die phobokratischen Herrschaft oder müssen wir dafür einen fünften Begriff ersinnen?

 

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