Snyder: Der Weg in die Unfreiheit

  Der Yale-Professor Timothy Snyder wurde weltweit bekannt durch seine Standardwerk „Bloodlands“. In ihm beschreibt er die Agonie Osteuropas unter nationalsozialistischer und kommunistischer Terrorherrschaft. Die Fachkoenntnis, Akribie und die Vorurteilslosigkeit, mit der der Autor  dieses Thema behandelte, machte es ein Buch zu einem geschichtlichen Standardwerk der Gegenwart.

Nun hat Timothy Snyder ein neues Buch vorgelegt, das sich mit der Gegenwart beschäftigt. Es trägt den Titel „Der Weg in die Unfreiheit“. Sein Thema sind die totalitären Tendenzen in Russland, China und Teilen Europas und Nordamerikas, denen er mit viel Geschichte und einem neuartigen Begriffsapparat zu Leibe rückt. Es geht um die „weisen Nationen“, die in Wahrheit gar nicht so weise sind, um die Politik der „Unausweichlichkeit“, die in die „Politik der Ewigkeit“ mündet und um den bedrohlichen „christlichen Faschismus“. Dabei macht der Autor von seinen  weltanschaulichen Präferenzen kein Geheimnis.  Timothy Snyder ist Linksliberaler und erkennt in der Wahl von Donald Trump ein Alarmzeichen für die freie Welt. Gegen eine solche Position wäre nichts zu sagen, wenn auch andere Meinungen und Sichtweisen in seinem Buch eine angemessene Berücksichtigung finden würden. Erstaunlicherweise ist das nicht der Fall, was bei einem Gelehrten vom Rang Timothy Snyders verwundert. Doch dazu unten mehr.

Timothy Snyder beginnt mit einem Portrait von Ivan Iljin, Putins Leib- und Magenphilosophen, dessen Werke  heute in Russland millionenfach aufgelegt werden. Ivan Iljin, so Timothy Snyder nicht ohne Dramatik   „ist ein Führer auf dem immer dunkler werdenden Weg in die Unfreiheit, der von der Unausweichlichkeit in die Ewigkeit führt. Wenn wir uns mit seinen Ideen und Wirkungen vertraut machen, können wir den Weg ins Dunkel überblicken, während wir auf der Suche sind nach Licht und Auswegen.“ Der so Gescholtene wurde 1883 in Russland geboren und verließ mit einem der fünf „Philosophenschiffen“ 1922 in letzter Sekunde Russland, ehe der kommunistische Blutvorhang herunterging.  Er bewunderte Mussolini und Hitler, lebte bis 1938 in Berlin, eher er in die Schweiz übersiedelte, wo er 1954 (der Autor schreibt fälschlicherweise 1953) fast vergessen verstarb.

Statue von „Mutter Russland“ Wolgograd

Als Gott die Welt erschuf, so Iljin, sei Russland auf geheimnisvolle Weise der Geschichtlichkeit entgangen und in der Ewigkeit verblieben. Das Land erlebe im Laufe seiner Geschichte sich wiederholende Zyklen von Bedrohung und Verteidigung. Alles, was geschehe, sei ein Angriff der Außenwelt auf die russische Unschuld. Die menschliche Individualität sei gewissermaßen ein Schöpfungsfehler, oder anders gesagt: das Schlupfloch, das sich der Satan zunutze macht.   Es kommt deswegen alles darauf an, dass Individuelle in das organische Ganze zurückzuführen, welches durch einen mythischen, übergeschichtlichen Führer repräsentiert wird. Freie und geheime Wahlen sind aus dieser Sichtweise ein Werk des Satans. Wenn es Wahlen überhaupt geben soll, dann nur als öffentliche Akklamation für den mythischen Führer.  Kernthese von Iljins „christlichem Faschismus“ ist, dass Russland nicht als kommunistische Gefahr der Gegenwart wahrgenommen werden sollte, sondern als christliches Heilsversprechen der Zukunft. Iljin ist überzeugt, dass der dekadente Westen dem unschuldigen Russland den Kommunismus aufgebürdet habe. Eines Tages werde Russland sich selbst und auch andere  befreien.“

Für Timothy Snyder ist die Iljins Philosophie die ideale Rechtfertigung der russischen „Kleptokratie“,  denn sie ermöglicht es, den „Dieben“, sich als „Erlöser“ aufzuspielen. Sie versetzt eine neue Führung in die Lage, Feinde zu benennen und dadurch fiktive Probleme zu schaffen, die nicht gelöst werden konnten, wie zum Beispiel die niemals endende Feindschaft des dekadenten Westens“ Snyder unterscheidet im Folgenden zwei Modi der politischen Organisation: „Imperium“ und „Integration“. Imperien wie Russland ebnen ein und dulden keine Besonderheiten. Integrative Systeme wie die EU besitzen nach Snyder die Größe, Unterschiedlichkeiten innerhalb ihrer Struktur zu dulden.  Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, möchte man hinzufügen, wenn man etwa an die Rechtsstaatsverfahren der EU-Bürokratie gegen Ungarn und Polen denkt.

Snyder hält die Epoche der Nationalstaaten geschichtlich nur für eine Übergangsphase zwischen der imperialen Welt vor dem ersten Weltkrieg und der großen Wende von 1990. Dabei sei eine falsche Idee von der „Weisheit der Nationen“ entstanden, als sei sie eine Entität, die sich immer zum Wohle ihrer Mitglieder entscheide, was bedeute, dass „die weise Nation“ auch aus einer Konföderation wieder austreten könne. Alle EU-kritischen Kräfte, die mit der „Weisheit der Nation“ argumentieren und aus der EU hinaus wollen, finden deswegen in Russland eine Stützte. Gestalten wie Le Pen, Strache, Berlusconi und andere lassen grüßen, vom Gotteseibeuns Donald Trump ganz zu schweigen. Auch hier verschwendet der Autor keinen Gedanken daran, ob es etwa berechtigte Strukturmängel der EU gibt, die den Austrittswilligen nachvollziehbare Argumente liefern könnten.

Putins Gegenmodell ist „Eurasien“, der große Landblock, der den„atlantischen“ Imperien gegenübersteht. Es beruhe auf keinerlei demokratischen Werten und sei nichts weiter als ein Konkurrenzprojekt zur EU, die als „schwach“ eingeschätzt werde. Fernziel ist, dass  europäische Staaten eine zerfallene EU verlassen und in die Eurasische Union eintreten. Zur Verfolgung dieser Ziele hat Russland einen Cyberkrieg neuen Ausmaßes begonnen, der die Vernichtung der EU zum Ziel hat. Putin unterstützte Separatisten in Schottland und Le Pen in Frankreich. Bei der Brexit Abstimmung, so Snyder, wurde das Internet mit hunderttausenden Fake-News überschüttet. „Die Briten, die über ihre Entscheidung nachdachten, hatten damals keine Ahnung, dass das Material, das sie da lasen, von Bots verbreitet wurde, und erst recht nicht, dass diese Bots Teil der russischen Außenpolitik waren, deren Ziel in der Schwächung ihres Landes bestand.“  Ebenso kam es zur Unterstützung der Freiheitlichen in Österreich, deren Kandidat Hofer bei den Präsidentschaftswahlen nur knapp scheiterte. Wieder reibt man sich die Augen. Snyder beschreibt jede Menge russische Interventionen auf und liegt auf der reinen Sachebene wahrscheinlich richtig. Er scheint aber nicht im Traum daran zu denken, dass auch die Gegenseite ähnlich unterwegs ist. Indem er die „bösen Buben“ aus dem Westen  völlig ausblendet, vermittelt er ein schiefes Bild.

All diese Probleme bündeln sich zurzeit im Ukraine Konflikt, was dem Autor Gelegenheit gibt, ganz weit zurückzublicken bis in die finsteren Tage der Kiewer Rus. Schon allein dieser Fokus zeigt, dass in russischer Sicht  Russen und Ukrainer zusammengehören. Die Russen scheinen es den Ukrainern abzusprechen, überhaupt eine Nation zu sein. Den Wunsch, sich nach Europa im Sinne von Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Kontrolle zu orientieren, sei aus der russischen Perspektive nichts weiter als Verrat an einer gemeinsame Ganzheit, zu der auch die Ukraine gehört. Die Ukrainer dagegen erinnern sich wieder an die Gräuel, die sie von  den Russen erlitten haben. Die menschenverachtende Handhabung der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 führte zu starken antirussische Affekten, außerdem revitalisierte sich in der Ukraine  die Erinnerung an den Holodomor der dreißiger Jahre.

Maidan

Die sogenannte „ukrainischer Demokratie“ unterscheidet sich von der russischen Kleptokratie durch eine „Zirkulation der Oligarchen“. Erst als der russophile Präsident Janukowitsch diese Zirkulation zu unterbrechen suchte und für Russland optierte, kam es zur Maidanrevolution. Kennzeichnend, dass Snyder die westlichen Hintergründe und Drahtzieher dieser Revolution überhaupt nicht thematisiert. Es gab einen Knall, und die freiheitsliebenden Ukrainer waren da. Der „rechte Sektor“ wird entweder nicht erwähnt oder marginalisiert, die Geldflüsse von Seiten der amerikanischen Botschaft und der NGOs schien es nicht gegeben zu haben, ebenso wenig der Umstand, dass Janukowitsch die Mehrheit im Parlament hinter sich hatte und dass es große Landesteile gab, die mit den Vorgängen in Kiew gerade nicht sympathisierten. Wohlgemerkt, ich bin weit davon entfernt, ein Janukowitsch Anhänger zu sein und finde den Sieg des Maidans sogar positiv, aber so eine schwarz-weiß-Veranstaltung, wie es Synder darstellt, war die MaidanRevolution sicher nicht. Für die russische Propaganda erscheint die Maidanrevolution als ein „schwules Projekt“. Auf dem Höhepunkt des Machtkampfes zum Jahreswechsel 2013/2014 wurden russische Gewaltspezialisten von Moskau nach Kiew geschickt und ukrainischen Polizisten die russische Staatangehörigkeit versprochen, aber es nutzte nichts.  Irgendwann kamen die Russen dann zu der Überzeugung, dass Janukowitsch am Ende war und dass es nun darauf ankomme, sich zu nehmen, was man brauche. Vor diesem Hintergrund ist die Annexion der Krim (und später von Teilen des Donbas) zu sehen. Snyder beschreibt sehr genau die illegalen russischen Aktionen, verzichtet aber diesmal merkwürdigerweise auf den historischen Rückblick (Chruschtschow „schenkte“ 1954 die fast ausschließlich von Russen besiedelte Krim der Ukraine) und thematisiert auch nicht, dass die Mehrheit der Krimbewohner Russen sind.

Was den ukrainischen Nationalismus betrifft, so hat sich allerdings  ein ganz anderer Effekt ergeben, als den, den sich Putin wünschte. Die ukrainische Nationalität hat sich im Zuge der Auseinandersetzung mit Russland intensiviert. In Kiew wurde das „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“ umbenannt in „Museum des Zweiten Weltkrieges“ und neben ihm wurde ein erbeuteter  russischer Panzer aufgestellt.

Im weiteren Verlauf des Buches hat dann der unvermeidliche Donald Trump seinen Auftritt. Trump erscheint als eine bankrotte Kreatur, der durch russisches Geld wieder auf die Beine kam. Die Vielzahl von Trumps Verbindungen nach Russland ist in der Tat erstaunlich, heißt aber noch nicht, wie es Snyder suggeriert, dass Trump Putins Marionette war. Das scheint Snyder aber zu unterstellen.

Am Ende bleibt ein unbefriedigendes Gefühl. Man hat viel über die Innenansicht des russischen Staates gelernt, über seine Leitbilder und Passionen und will dem Autor gerne abnehmen, dass das mit freien Welt wenig zu tun hat.  Allerdings muss man zugeben, dass das, was Snyder schreibt und was manch einem zunächst als übertrieben erschien, durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine auf das erschütterndste bestätigt wurde. All das, was Snyder über Putins Weltanschauung schriebt, scheint wahr zu sein. Das ist das erchütternde.

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