Steinbrück: Das Elend der Sozialdemokratie

Peer Steinbrück gehört zweifellos zu den wenigen herausragende Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie nach der Jahrtausendwende. Er war der letzte Politiker, der für die SPD der nach-Schröder-Ära  noch über 25 % der Wähler gewinnen konnte –  und er ist nun der erste Spitzenmann, der ihre Malaise klar diagnostiziert. Dass er in dieser Position inzwischen parteiintern fast eine persona non grata geworden ist, sagt mehr als genug über den Krisenzustand der Partei aus.

Um es kurz zu machen: Steinbrücks Diagnose der verlorenen Bundestagswahl und des europaweiten Abstiegs sozialdemokratischer Parteien ist die eindeutig.  Schuld ist die sogenannte „Kaviarlinke“,  die sich im Zeichen der Globalisierung von den strukturstrapazierten Arbeitern und den hart arbeitenden Mittelschichten abwandte, um mit ihrer Politik Minderheiten zu bedienen. Der Prozess der Entfernung der sozialdemokratischen Funktionäre von den Bedürfnissen der einfachen Menschen, den schon der späte Helmut Schmidt beklage, ist vollendet. Das ist ein zutreffender, aber keineswegs neuer Befund. Ebenso wenig neu oder originell ist, dass Steinbrück die sogenannte „rechtspopulistische“ Opposition, die sich um eine wirklichkeitsadäquatere Sichtweise der Probleme bemüht, bedenkenlos, in die Nazi-Tonne kloppt.  Beides zusammen zeigt, dass Steinbrück bei aller berechtigen und scharfsinnigen Kritik an seiner Partei noch immer Fleisch vom Fleisch der  Sozialdemokratie ist und bestimmte dicke Bretter einfach nicht vor seinem Kopf wegbekommt.

„Ich bin weiblich, verhältnismäßig jung, weiß und deutscher Herkunft, heterosexuell, will Kinder haben beziehungsweise habe Kinder, fühle mich in meinem Job wohl, will aber so bezahlt werden wie mein männlicher Kollege, finde Deutschland toll, wenn auch an manchen Stellen verbesserungsbedürftig – und fühle mich nicht als Opfer!“ So beschreibt Steinbrück  die potenziellen und vergrätzten SPD-Wähler. Diese ehemaligen SPD Wähler besitzen ein ausgeprägtes Sensorium für den Verlust an innerer Sicherheit und erkennen gleichzeitig, dass sich die SPD  gegen den Ausbau der Sicherheitsapparate sträubt.  Obwohl sich Steinbrück um höflichen Ausdruck bemüht, beruht der Niedergang der SPD außerdem auf einer desaströsen Personalauswahl. Wenn immer wieder SPD-Kandidaten nur deswegen aufsteigen, „weil sie den sozialdemokratischen Kodex perfekt aufsagen können (am besten antirassistisch, antiamerikanisch, antikapitalistisch, pazifistisch, feministisch und kritisch gegen die eigenen Spitzenleute), aber zur Sozial- und Wählerstruktur des jeweiligen Wahlkreises so gut passen wie ich (der Autor) zum Ballett, muss man sich nicht wundern, wenn das auf Dauer schiefgeht und zu einer Demobilisierung der einfachen Parteimitglieder und zur Abwanderung von Wählern führt.” Niemand der an Figuren wie Nahles, Maas, Barley oder Stegner denkt, wird dem Autor hier ernsthaft widersprechen wollen

Was Steinbrück ebenfalls nicht verstehen kann, ist die Abkehr der Partei von der erfolgreichen Schröder´schen Agenda Politik, die den Wiederaufstieg Deutschlands vom „kranken Mann Europas zum „europäischen Power-House“ ermöglicht hat. Im Hinblick auf einen möglichen Neuanfang der Sozialdemokratie zeigt sich allerdings, dass auch der Autor nur mit Wasser kocht, denn das was er an Rezepten vorträgt, ist inzwischen landauf landab in jeder Politikerrede zu hören: (1)  Europa, (2)  Digitalisierung und (3) sozialer Zusammenhalt.

Steinbrücks Buch ist immer dann am interessantesten, wenn er auf seine Erfahrungen als SPD Kanzlerkandidat des Jahres 2013 zu sprechen kommt und ein wenig aus dem Nähkästchen plaudert.   Die wichtigste Erfahrung, die Steinbrück damals machen musste, war, dass die Kanzlerkandidatur und der  Parteivorsitz niemals getrennt sein dürfen (Heftige Kontroversen mit Siegmar Gabriel werden angedeutet), eine Erfahrung, die übrigens auch Martin Schulz, der Kanzlerkandidat des Jahres 2017 machen musste. Die zweite wichtiger Erfahrung war die völlig Inkompetenz der Berliner Parteizentrale  (Diese Bemerkungen werden ihm in der Partei viele übel genommen haben). Was alle SPD Kanzlerkandidaten lernen mussten, blieb auch Steinbrück nicht erspart:  Im Interesse der Geschlossenheit musste er sich parteiintern der Linken öffnen und damit in Kauf nehmen, zentrale Wählerschichten der Mitte  abzuschrecken. Diesem Dilemma entsprach parteiintern der Anspruch gerade der wirkungsschwächten Landesverbände auf maximale Einflussnahme auf das Parteiprogramm.  In gewisser Weise ist der unverhältnismäßige Einfluss der Parteilinken nach Steinbrück auch eine Folge der Überalterung.  „ 54 Prozent ihrer Mitglieder sind über 60, 73 Prozent über 50 Jahre, demgegenüber nur acht Prozent unter 30 Jahre und 16 Prozent unter 40 Jahre alt“, schriebt Steinbrück und folger: „Die Wahlkämpfe werden überwiegend von Jusos getragen”. Ohne dass Steinbrück dass ausdrücklich sagt, wird eine paradoxe Konstellation sichtbar: Die SPD ist eine Partei, die aufgrund ihrer Überalterung ihre Wahlkämpfe überwiegend von jugendlichen Parteimitgliedern  führen lässt, deren  parteilinke Ansichten die Wählerschaft abschrecken.

Ein eigenes Kapitel widmet Steinbrück dem Thema „Leitkultur“. Er distanziert sich von den  Ausführungen der SPD-Integrationsbeauftragten Özugus, nach deren Meinung eine deutsche Kultur „abgesehen von der deutschen Sprache schlicht nicht existiert“  – und empört sich etwas pharisäerhaft über die Empörung des AfD Parteichefs Alexander Gauland, der Frau Özogus wegen dieser Äußerungen „nach Anatolien entsorgten“ wollte. Trotzdem, so Steinbrück, ist eine gesellschaftlich anerkannte Leitkultur, altertümlich übersetzt als ein Kanon sozialer „Tugenden“, für ein funktionierendes Gemeinwesen unerlässlich. Steinbrück verurteilt, wie umfassend und sozial auffällig die Eliten die einfachen Maßstäbe anständigen Verhaltens folgenlos missachten. Er beklagt die gesellschaftliche Verrohung, die in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens zunimmt, wenngleich wieder überrascht, wie vollständig der Autor das entscheidende Strukturproblem ausblendet: nämlich den zunehmenden Verlust des Landfriedens durch eine importierte Rohheitskultur. Man spürt förmlich, dass der Autor das durchaus sieht, aber um das heiße Eisen der Zuwanderung und ihrer verhängnisvollen Begleiterscheinungen einen regelrechten Eiertanz aufführt. Mehrfach entschuldigt sich Steinbrück für seine vorsichtige Kritik, und erst ganz am Ende des Buches, gleichsam in einer Art Nachwort, spricht er ansatzweise Klartext und beklagt, das 150.0000 verurteilte Straftäter (davon nach Steinbrück ein Drittel ausländischer Herkunft) nicht einsitzen. Beim Thema  Europa verhält es sich ähnlich. Steinbrück singt das Lob Europas, ohne sich wirklich mit den extremen Schieflagen der europäischen Politik auseinanderzusetzen. Weder der Bruch der Maastricht Verträge, die teilweise Vernichtung der Altersversorge durch die Nullzinspolitik der EZB und die überbordende Staatsverschuldung der Südländer kommen zur Sprache. Auch eine Distanzierung von der Merkel´schen Grenzöffnung, die das gesamte bundesrepublikanische  System ins Rutschen brachte, wird man bei Steinbrück vergeblich suchen. Hier erreicht Steinbrücks Buch bei weitem nicht das Niveau und anderer Analysen wie etwa Luckes „Systemausfall“ oder Sinns „Der schwarze Juni“.

„Die SPD war immer dann mehrheitsfähig, wenn sie drei Profile gleichzeitig anbieten konnte: hohe soziale Kompetenz, wirtschaftlichen Sachverstand und den Anspruch, Plattform für die zentralen gesellschaftlichen Debatten der kreativen, unkonventionellen, politisch interessierten, freien Geister der Republik zu sein“, schreibt Steinbrück im letzten Kapitel seines Buches. Das ist zweifellos richtig, aber genauso wahr ist, dass die SPD keine diese Anforderungen mehr erfüllt.   In dem überzeugenden Aufweis dieses Sachverhaltes liegt der Wert des Buches. Steinbrücks Therapievorschläge, das sei anerkannt, atmen durchaus  den Geist vernünftiger Politik, ohne sich wirklich von den Denkschablonen ihres weltanschaulichen Milieus befreien zu können.

 

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