Stern: Isadora Duncan und Sergej Jessenin

Isadoa DuncanDie Freuden des Herbstes sind noch viel gewaltiger, verzehrender als die des Frühlings oder des Sommers, heißt es auf Seite 48 des vorliegenden Buches. Isadora Duncan, die Dame, die diese Ansicht äußert, ist unübersehbar bereits im Herbst angekommen, ohne von den Freuden des Frühlings und des Sommers lassen zu wollen. Was liegt da näher als bei einem Besuch in Moskau im Herbst 1921 den 17 Jahre jüngeren Poeten Sergej Jessenin in ihr Bett zu ziehen, zu verhätscheln und schließlich sogar zu heiraten? Sicher, die weltberühmte Isadora Duncan, die Schöpferin des modernen Ausdruckstanzes, fegt nicht mehr so flott über die Bühne wie in ihren Glanzzeiten, und auch die Begeisterung des westlichen Publikums hat merklich nachgelassen, aber im jungen Sowjetstaat, der nach internationaler Reputation giert, ist die Dame ein hochwillkommener Star – auch deswegen, weil sie vom „bürgerlichen Spießertum“ die Nase voll hat, ihre amerikanische Staatsbürgerschaft gegen die sowjetische tauscht und im Reich der Werktätigen an der Erziehung des neuen Menschen mitarbeiten will. Ihr frisch gebackener Gatte Sergej Jessenin ist trotz seiner Jugend bereits ein berühmter Dichter, der noch der Zarin ( vier Jahre, bevor die Bolschewiken sie in Jekaterinenburg erschossen ) 1916 seine ersten Poeme hatte vortragen dürfen und der im jungen Sowjetstaat ebenso wie sein poetischer Antagonist Majakowski (noch) eine individualistische Narrenfreiheit genießt. Von dem Terror, dem Not und dem Elend, der in Russland nach dem Bürgerkrieg herrscht, bekommen Isadora und Sergej nichts mit, im Gegenteil, Kulturkommissar Lunartscharski wirft Not leidende Familien aus einem verstaatlichten Palais um es der Duncan und ihrem Galan als standesgemäße Residenz zu übereignen.
Leider brechen schon 1922/3, als die beiden  zu einer Weltreise aufbrechen und nacheinander Berlin, Paris und die USA besuchen, die persönlichen Unverträglichkeiten auf. Isadora ist krankhaft eifersüchtig, von Kontroll- und Verlustängsten geplagt, und ihr poetisch so sensibler Gatte entpuppt sich als Rohling, der seine Frau beschimpft, verprügelt, belügt, bestiehlt und von Monat zu Monat mehr im Alkoholismus versinkt. Zwar gelingt es den beiden im Auftrag ihrer Sponserdiktatur in den USA einige Skandale zu entfachen, zwar singen sie gehorsam das Lied vom wunderbaren Sowjetkommunismus, doch bald werden sie selbst zu einem wandelnden Skandalpärchen, das aus den Hotels fliegt, Auftrittsverbote erhält und am Ende bis auf die Knochen blamiert in die UdSSR zurückkehrt. Längst ist die Liebe des jungen Galan erkaltet, seine Dichtung wird durchschnittlicher, sein Alkoholkonsum erreicht ein letales Niveau, und als die Duncan vom Regime auf Propagandatour in den Kaukasus und auf die Krim geschickt wird, wendet Jessenin sich anderen Frauen zu, der er natürlich auch verprügelt, betrügt und bestiehlt. Im Endstadium des Alkoholismus von Psychosen geplagt, nimmt er sich am 28.12.1925 in Leningrad das Leben.
Isadora Duncan, inzwischen verarmt, gealtert und vereinsamt, verliert die finanzielle Unterstützung der Sowjetdiktatur und kehrt nach Westeuropa zurück. Hier geht ihr persönlicher Herbst langsam in einen tristen Winter über, ohne dass sie von ihrer Gier nach jungen Männern lassen kann. Einzig ihr Tod besitzt noch einen Hauch von Poesie: bei einer Stippvisite mit einem jungen Galan verfängt sich ihr Schal im Rückreifen des Cabrios und bricht ihr das Genick. „Der Schal, das Requisit ihres Tanzes, ihres Lebens ist zum Werkzeug ihres Todes geworden.“(S. 166).
Soweit die Geschichte von der alternden Diva und dem Proletenpoet, die seit dem tragischen Ende der beiden Protagonisten mit einer gewissen romantischen Aura durch die Geistesgeschichte wabert – vor allem, nachdem sich um den früh verstorbenen Jessenin in der Sowjetunion unter den jungen Leuten ein regelrechter Kult entwickelte. Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, dass es mit dieser Vorstellung gründlich aufräumt und die Hauptpersonen so zeigt wie sie waren: begabte Egomanen, deren selbstzerstörerischen Energien ihre poetischen und ästethischen Kompetenzen weit überstiegen. Dass neben den chaotischen Höhen und Tiefen dieser Liaison auch noch ein anschauliches Portrait der Zwanziger Jahre entfaltet wird, ist ein weiteres plus dieses kleinen, anschaulich und unterhaltsam geschriebenen Buches.

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