Taras Tschewtschenko

Ich gestehe, dass ich vor dieser Reise noch niemals etwas von Tara Tschewtschenko gehört hatte, aber in der Ukraine war dieser Name jedermann geläufig. Er war eine Art ukrainischer Chopin, wenngleich er nicht als Musiker, sondern Maler und Dichter bekannt wurde. Wie kein zweiter symbolisierte er in seinem Lebenslauf die frühen Wegmarken des nationalen Erwachens. Es  begann schon damit, dass Tara Tschewtschenko  im Jahre 1814 als Sohn  eines Leibeigenen in der Nähe von Kiew geboren wurde. Dazu muss man wissen,  dass die russische Zarin Katharina II die Leibeigenschaft  kurz vorher auf die bis dahin  freien Bauern der Ukraine ausgedehnt hatte und dass die Leibeigenen im russischen Zarenreich wie Sacheigentum  vererbt werden konnten.  Tara Tschewtschenkos „Herr“ war der baltendeutsche Adelige Pawel Engelhardt, eine vollkommen unbedeutende Figur, an den man sich heute nur noch wegen seiner Beziehung zu Tara Tschewtschenko  erinnert. Engelhardt „erbte“ im Jahre 1828 zusammen mit  3 Millionen Rubel und 17.000 Leibeigenen auch den 14jährigen Taras Tschewtschenko.  Der schon in jungen Jahren auffällig künstlerisch talentierte junge Taras wurde Hausdiener und Begleiter Engelhardts, der sich nicht entblödete, sich mit seinem begabten „Sklaven“ zu schmücken. Auch wenn er ihn gelegentlich züchtigen ließ, nahm  er ihn mit auf seinen russischen Reisen und finanzierte ihm immerhin nach seiner Übersiedlung in die russische Hauptstadt St. Petersburg  eine Ausbildung als Maler. In St. Petersburg fiel Tschewtschenkos  Begabung arrivierten Künstlern und Literaten auf, die sich eine Zeitlang vergeblich bemühten, ihn von seinem „Herrn“ freizukaufen. Erst die  Versteigerung eines Tara Tschewtschenko  Bildes und eine Tausend Rubel-Spende der Zarenfamilie erbrachte eine Summe, für die ihn sein „Herr“ in die Freiheit entließ.

Als freier Künstler reiste Tschewtschenko   kreuz  und quer durch die heutige Ukraine und veröffentlichte im Jahre 1844 seinen Bilderzyklus „Malerische Ukraine“, der ihn landesweit  bekannt machte. Seine Erzählungen und Gedichte schrieb er zum Ärger der Obrigkeit überwiegend in dem als Dialektverachteten Ukrainisch. 1847 wurde er wegen satirischer Spottverse auf die Zarenfamilie  verhaftet und zur lebenslangen Verbannung nach Kasachstan verurteilt, nicht ohne dass Zar Nikolaus I  in bemerkenswerter Biestigkeit anordnete, dem Verbannten jede malerische Tätigkeit zu untersagen.  Zehn Jahre verbrachte  Tara Tschewtschenko in der Verbannung und durfte in dieser Zeit als Maler und Dokumentator an Expeditionen zum Aralsee und zum Kaspischen Meer teilzunehmen.  Erst 1857 wurde er vom Reformzaren Alexander II  begnadigt, verblieb aber weiterhin unter strenger Beobachtung der Geheimpolizei. 1861, erst 47jährig, erlag Tschewtschenko einem Herzinfarkt.

Jung lassen die Götter diejenigen sterben, die sie lieben, vor allem, wenn sie ihnen den Nachruhm nicht versagen. In der heutigen Ukraine sind  Hunderte von Orten und Plätzen nach Tara Tschewtschenko benannt, und die höchste Kulturauszeichnung der Ukraine trägt seinen Namen. Tara Tschewtschenkos Texte wurden von Tschaikowski und Rimsky-Korsakoff vertont, und seinen Gemälden ist ein eigenes Nationalmuseum in Kiew gewidmet.

Leseprobe aus:: Ludwig Witzani: Der wilde Osten, Berlin 20,21, S. 233ff.

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