Tartt: Der Distelfink

Tart Der Distelfink_Im letzten Jahr war dieses Buch in aller Munde. Preisgekrönt und in allen großen Literaturzeitschriften besprochen galt es als ein Meisterwerk des modernen amerikanischen Romans. Ein Tausendseitenwerk, ein Entwicklungsroman, der zugleich als amerikanischer Gesellschaftsroman daherkommt,  ambitioniert und raffiniert und auf der gleichen Ebene beheimatet wie Jonathan Franzen und Philip Roth. Denis Scheck höchstselbst sprach bei der Vorstellung der deutschen Übersetzung  eine euphorische Empfehlung aus und alle, alle lasen.  Aber lasen auch alle zu Ende? Das ist die große Frage. Hier ist mein Bericht.

Der erste Eindruck, den dieses Buches erweckt, ist tatsächlich umwerfend. Es geht um den  dreizehnjährigen Theo Decker, der bei einem Terroranschlag in einem Museum seine über alles geliebte Mutter verliert. Er ist es auch, der erzählt, spannend und mit Aus- und Rückblicken wird der Leser auf den ersten hundert Seiten zum Zeugen eines schrecklichen Verhängnisses. Dann ist es passiert, die Bombe ist detoniert, die Mutter ist tot, und der kleine Theo muss Tart Der Distelfink_sehen, wie als Waise in der Welt zurechtkommt. Das alles ist kompliziert, aber noch komplizierter wird die Sache, weil Theo bei seiner Flucht aus den Ruinen des Museums, halb unabsichtlich, halb absichtlich, sein Lieblingsbild, den „Distelfink“ des holländischen Malers  Carel Fabritius, mitnahm und seitdem wie seinen Augapfel hütet. Zuerst verschlägt es Theo in eine Pflegefamilie, dann zu seinem missratenen Vater nach Las Vegas, ehe er zum Partner eines Antiquitätenhändlers in New York aufsteigt.  Den größten Teil des Romans kämpft Theo mit seinem Verlusttrauma, seiner unglücklichen Liebe zur rothaarigen Pippa, mit seinem Drogenproblem und der Angst, dass er als Dieb des „Distelfinks“ enttarnt wird. Schließlich stellt sich heraus, dass das Bild, das Theo sicher in seinem Besitz glaubte, längst entwendet wurde und  als Rückversicherung ominöser Mafia-Geschäfte durch die USA tingelt. Mit dem Versuch, das Bild wiederzubeschaffen, endet der Roman.  Soweit der Handlungsrahmen. Was kann man daran aussetzen?

Zunächst mal nichts, denn ganz ohne Zweifel besitzt der Distelfink Züge eines Meisterwerkes,  eine geschliffene Sprache, sehr prägnante Anschaulichkeit, messerscharfe und genussvoll zu lesende Personenschilderungen und eine Hauptperson, die bei jedem Leser Interesse erwecken wird.   Auch atmosphärisch hat der Roman Einiges zu bieten: die morbide Stimmung in den Vorstädten von Las Vegas, die ukrainorussische Immigrantenkultur oder die Usancen des Antiquitätenhandels an der amerikanischen Ostküste  erschließen sich dem Leser, auf eine sehr unaufdringliche Weise gleichsam nebenbei. Alles super, aber dann ging es mir wie vielen Rezensenten auch: ich las und las und fragte mich: Wann kommt das Finale? Wohin steuert die Handlung? Doch je weiter ich las, desto hanebüchener und willkürlicher wurde die Handlung. Kann es wirklich sein, dachte ich, dass ein Roman, der so großartig beginnt, handlungstechnisch am Ende derart abstürzt?  Eine Zeitlang habe ich weitergelesen, weil Stil und Diktion der Autorin einfach überall hervorragend Tart Der Distelfink_lesbar sind, aber was die Handlung betraf, wurde es einfach nicht besser.  Am Ende, als Theo und sein Freund Boris in einem kolportageartigen Finale den „Distelfink“ zurückholen wollen, habe ich die Seiten nur noch überschlagen und das Buch schließlich verstimmt weggelegt.

Was habe ich von diesem Buch mitgenommen? Interessante Einblicke in den Antiquitätenhandel, die ergreifende Introspektion eines kleinen Jungen, der sein Mutter verliert, eine ganze Reihe köstlicher Charakteristika – aber auch die Einsicht, dass sogar groß angelegte und ambitionierte Romanprojekte etablierter Könner an etwas scheitern können, was die moderne Literaturwissenschaft kaum noch auf dem Schirm hat: an ihrer Handlung. Das jedenfalls hat Franzen in „Freiheit“ und „Unschuld“ besser gemacht.

 

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