Teltschik: Russisches Roulette

 Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Rezension stehen einhunderttausend russische Soldaten kampfbereit an der ukrainischen Grenze. Die Amerikaner zetern und drohen mit Sanktionen. militärisch eingreifen werden sie nicht, wenn die Russen in die Ukraine einmarschieren. Das Risiko eines globalen Krieges wäre viel zu groß. Die Europäische Union steht abseits wie ein begossener Pudel, plan- und machtlos am Ende einer von ihr mitverursachten langen Entwicklung, die zu dieser Eskalation geführt hat.

Grund genug, sich mit dem Buch des ehemaligen Kanzlerberaters Horst Teltschik zu beschäftigen, der als Fachmann und Augenzeuge die Russlandpolitik der letzten fünfzig Jahre aus nächster Nähe miterlebt hat. Das Buch ist insofern etwas Besonderes, weil es sich vom landläufigen Russlandbashing des Mainstreams unterscheidet und bei aller Kritik an der Autokratie Russlands auch Verständnis für die russische Sicht der Dinge weckt.

Demonstration auf dem Alexanderplatz Berlin

Horst Teltschik beginnt seine Darstellung mit der Ostpolitik der Regierung Brandt, deren Verdienst es gewesen sei, trotz der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahre 1968 unbeirrt an der Entspannungspolitik festzuhalten. Dabei wurde Brandt von der NATO unterstützt, für die das Nebeneinander von militärischer Stärke und Verständnisbereitschaft Leitlinie ihres Handels war. Wie erfolgreich sich diese Politik zunächst auswirkte, zeigte sich für Teltschik in den zahleichenen Verträgen, die in den 1970er Jahren zwischen der NATO und Sowjetrussland geschlossen wurden.  So ermöglichten es beispielsweise die in der Schlussakte der Konferenz von Helsinki definierten Freiheits- und Minderheitenrechte den osteuropäischen  Oppositionsgruppen unter Berufung auf die dort vereinbarten Rechte öffentlich zu agitieren – auch wenn sie realiter von den herrschenden Kräften in völliger Missachtung der eingegangenen Verpflichtungen unterdrückt wurden.

Eine wesentliche Verschärfung der Situation trat ein, als die UdSSR ihre SMS 20 Mittelstreckenraketen in Europa stationierte und in Afghanistan einmarschierte. Angesichts dieser Herausforderungen geriet der Westen  in die Defensive, weil eine angemessene Reaktion durch die sogenannte „Friedensbewegung“ im Westen behindert wurde. Bemerkenswerterweise richtete sich diese

Friedensbewegung vor allem gegen die Rüstungsanstrengungen des eigenen Lagers, was rückblickend gesehen nicht erstaunt, weil, wie die Öffnung der sowjetischen Archive nach 1991 zeigte,  wesentliche Akteure der  Friedensbewegung vom sowjetischen Geheimdienst beeinflusst  wurden.    Trotzdem rückte in den frühen 1980er Jahren die Regierungspartei SPD außenpolitisch scharf nach links, was so weit ging, dass sie ihren eigenen Kanzler stürzte.

Der politische Neuanfang der deutschen Politik ab 1982 unter Schmidts Nachfolger Helmut Kohl profitierte davon, dass Kohl immer in der Lage war, sehr gute persönliche Beziehungen zu seinen Gesprächspartnern aufzubauen. Das traf vor allem für das Verhältnis zum amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan zu, mit dem er 1984 eine gemeinsame Erklärung verabschiedete, die die Gleichgewichtigkeit von militärische Stärke und Verständnisbereitschaft noch einmal betonte. Sofort nach seinem Amtsantritt begann Reagan Verhandlungen über weitreichende Abrüstungsschritte, die eigne Jahre später zum Erfolg führen sollten. Diese Politik hat die sich bald erdrutschartig vollziehende deutsche Wiedervereinigung und den gleichzeitigen Zusammenbruch des Ostblocks wesentlich abgefedert. .

Fall der Mauer November 1989

Zum Verständnis der heutigen sehr viel angespannteren Lage weist Teltschik mit Recht daraufhin, welche Zugeständnisse Russland in der Umbruchphase 1989ff. gemacht hat: Die Sowjets stimmten dem Fall der Mauer ebenso zu wie der Liberalisierung der DDR, was gleichbeutend war mit dem Machtverlust der SED. Sie waren sogar mit der Wiedervereinigung UND dem NATO-Beitritt des wiedervereinigten Deutschlands einverstanden und zogen nach und nach ihre Truppen aus allen Staaten des ehemaligen Ostblocks ab.  Fast vergessen ist, dass diese Zugeständnisse Gorbatschow beim KP Parteitag von 1990 an den Rand des Sturzes brachten. Im Kern führten sie sogar zum erfolglosen Putsch des Sommers 1991.

Was aber trat an die Stelle des Warschauer Paktes? Wie sollte die neue Sicherheits- und Friedensarchitektur aussehen? Keiner wusste es so genau, aber alle jubelten. Teltschik beschreibt die  euphorische Stimmung der frühen 1990er  Jahre, besonders die Pariser Erklärung der OSZE Mitglieder und die Pläne eines „Europa von Vancouver bis Wladiwostok.“ Francis Fukuyama verkündete das Ende der Geschichte und den endgültigen Sieg des Liberalismus.

Bekanntlich ist es ganz anders gekommen. Aber warum? Zunächst gerieten die  osteuropäischen Gesellschaften im Zuge ihrer Transformation von totalitären zu marktwirtschaftlichen Strukturen in eine tiefe Krise. Die UdSSR brach auseinander, Nationalitätenkonflikte führten zu Bürgerkriegen,  Korruption und Kriminalität grassierten, und schließlich eröffnete der Golfkrieg eine völlig neue Situation. Russland sank auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit einem der höchsten Suicidraten der Welt ab und  wurde vom Subjekt zum Objekt der internationalen Politik.  Kein Wunder, dass die traumatische Erfahrung der 1990er Jahren das heutige  Selbstverständnis Russland prägen. Sie lassen sich nach Teltschik  in die Schlagworte zusammenfassen: Von der Freiheit endtäuscht, vom Westen betrogen. Nur vor diesem Hintergrund ist der Erfolg Putins zu erklären, dem es gelang, nach seinem Machtantritt die Oligarchen zu  zähmen und die Lebensgrundlagen für die einfache Bevölkerung zu sichern. Dass er dabei ganz und gar nicht wie ein „lupenreiner Demokrat“ agierte, wie es Gerhard Schröder behauptete, steht auf einem anderen Blatt.

Putin

Putin, der als Prowestler angetreten  und vom Nutzen der Zusammenarbeit mit dem Westen überzeugt war, erlebte ab dem Jahrtausendwechsel lauter unilaterale Aktionen der USA, bei denen Russland scheinbar keine Rolle mehr spielte wie etwa den  Angriff auf den Irak, der auf gefälschten Dokumenten beruhte oder die Bombardierung des traditionellen Russland-verbündeten Serbiens. Von westlichen NGOs befördert und mit amerikanischem Geld finanziert, kam es zu Regimewechseln zuerst in Georgien und dann in Kiew. Der vom Westen so hochgelobte ukrainische Präsident  Juschtschenko, so Telschik, „betrieb eine umfassende Ukrainisierung des Bildungswesens. Trotz der russischsprachigen Regionen in der Ukraine bekämpfte er kompromisslos die russische Sprache und löste gerade in den mehrheitlich russischsprechenden Regionen wie der Ostukraine großen Widerstand aus. Vermutlich legte er mit seiner Politik die Saat für den späteren Aufstand. Gleichzeitig trat er für eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO und in der EU ein.“

Aus russischer Sicht legte der Westen doppelte Standards an, indem er das  Kosovo anerkannte, von Russland aber forderte, im Falle Ossetiens oder Abchasiens anders zu verfahren. Der Georgienkrieg 2008 wurde von georgischer Seite begonnen, auch wenn Russlands Gegenschlag nach Teltschiks Meinung unverhältnismäßig war. Die nach dem Maidam-Umsturz  2013 von Russland vorgenommene Abspaltung der Krim und Unterstützung der Donbas-Sezession wird von Teltschik zwar kritisiert, letztlich aber als defensives Verhalten von Seiten Russlands verstanden.

Unbestreitbar ist auch, dass die Obama-Administration Wesentliches zur Verschlechterung der Beziehungen zu Russland beigetragen hat. Das Raketenabwehrsystem gegen den Iran wurde nur vordergründig auf Eis gelegt, in Wahrheit bereitete Außenministerin Clinton ein viel umfassendere System in Osteuropa vor, dass ausdrücklich auch gegen andere Angriffe schützen sollte. Ungeschickte und unverschämte Äußerungen der Obama Administration trugen das ihre dazu bei, die Beziehungen zu Russland weiter zu verschlechtern. „Obamas Feststellung, Russland sei eine Regionalmacht, und Bidens Aussage, ausgerechnet in Litauen, Russland sei ein schwaches Land, waren Tiefschläge in die Magengrube selbstbewusster Russen.“

Besonders heikel und im Westen überhaupt nicht hinreichend rezipiert waren die westlichen Versuche, im Jahre 2011 die Wiederwahl Putins anzuzweifeln –  und auch in Russland eine Rosen-Revolution anzuzetteln. Die seitdem anhaltende Kritik am Putinregiemnt findet Teltschik heuchlerisch, weil der Westen mit zweierlei Maß misst.  „Ist die Volksrepublik China demokratischer als Russland?“ fragt er. „Ist ihre Besetzung vorgelagerter Inseln, die auch von Japan oder anderen asiatischen Staaten als Teil ihres Territoriums beansprucht werden, keine völkerrechtswidrige Okkupation? Die jährlichen Zahlen über Hinrichtungen im Iran oder in Saudi-Arabien gehören zu den höchsten weltweit. Ihre militärischen Interventionen in Syrien, im Irak oder im Jemen sind in ihrer Brutalität unbeschreiblich. Stört das die Beziehungen der Europäer zum Iran und zu Saudi-Arabien?“ Natürlich nicht.

Das westliche Narrativ, nachdem Russland eine Wiederherstellung seiner Weltmachtposition aggressiv anstrebe, findet Teltschik falsch. Er plädiert stattdessen dafür, die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands ernst zu nehmen und dem Land den ihm gebührenden Platz in der Weltpolitik einzuräumen. Durch die konfrontative Politik des Westens wurde allerdings viel Porzellan zerschlagen und ein tiefes Misstrauen gegen den Westen in Russland hervorgerufen.

Liest man Teltschiks faktengesättigte Darstellung wird man ihm in vielfacher Hinsicht zustimmen müssen, was aber nichts daran ändert, dass man die Ukraine nicht einfach, ohne die Bevölkerung zu befragen, dem russischen Einflussbereich zuschlagen kann.

Statue der „Mutter Russland“ Wolgograd/ Russland

Aussichtreiche Konzepte zur Konfliktbewältigung hat Teltschiks Buch nicht zu bieten. man Der Wert seines  Buches besteht vielmehr in der Nachzeichnung der russischen Position, wodurch sich eine adäquatere Problemwahrnehmung ergibt.  Der Subtext des Buches besteht in der These, dass nicht nur der Osten, sondern auch der Westen ein Problem hat, das nur gemeinsam gelöst werden kann.

 

 

Kommentar verfassen