Von Seltmann: Todleben. Eine deutsch-polnische Suche nach der Vergangenheit

Im Sommer 1999 lernt der Autor Uwe von Seltmann in einem Cafe´ in Krakau einige junge Polen kennen, unter anderem die junge Gabriele Maciejowska, die bald seine Frau werden sollte. Beim näheren Kennenlernen stellte sich jedoch heraus, dass Uwe und Gabriele auf eine extrem unterschiedliche Familiengeschichte zurückblicken. Der Großvater des Autors war der SS Mann Lothar von Seltmann, zeitweise ein Mitarbeiter von Odilo Globocnik, einem der schlimmsten Nazi Schlächter im besetzten Polen.   Der Großvater Gabrielas war Michał Pazdanowski, ein galizischer Jude, der im November 1942 in Lemberg verhaftet wurde und 1944 auf einem Transport von Maidanek nach Ausschwitz verstarb.  Kein Wunder, dass diese Familiengeschichte das junge Paare in Probleme stürzt, nicht zuletzt,  weil der Autor Uwe von Seltmann sich nach der Entdeckung dieser Bezüge intensiver mit der bizarren Parallelität der Lebensläufe beider Großväter beschäftigt.

Die Recherchen vollziehen sich über mehrere Jahre und im Zuge ausgedehnter Reisen durch Polen und die südliche Ukraine.  Überall  stoßen die Seltmans auf Erinnerungen, die oft  schmerzhaft verschlossen sind und nur ungerne formuliert werden. Hässliches und Heldenhaftes zugleich wird dabei zutage gefördert, denn Kollaboration und Antisemitismus gab es in der Bevölkerung ebenso wie Mitgefühl und Hilfe.  Wenig Erbauliches erbringt die Recherche nach dem deutschen Großvater.  Lothar von Seltmann war ein angepasster und diensteifriger Nazi gewsen, der der seine Aufgaben zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzen erfüllt hatte und persönliche Belobigungen selbst vom Reichsführer SS Heinrich Himmler erhielt. Ob er am Ende des Krieges am Nationalsozialismus tatsächlich irregeworden war, bleibt offen, jedenfalls endet der noch keine 30 Jahre alte fünffache Vater 1945 an der Ostfront durch Selbstmord.  Ob er als Täter dem Oper Michel Pazdanowski irgendwo persönlich nahegekommen ist, bleibt offen, ebenso wie Details zum Schicksal Michel Pazdanwoskis vom Tag  seiner Verhaftung an bis zu seinem Tod auf dem Transport nach Auschwitz.

Ein Vorzug des Buches besteht in der intensiven Verschränkung von Vergangenheit  und Gegenwart, weil der  Autor  nicht nur die Geschichte sondern sehr genau auch den Verlauf seiner Nachforschungen beschreibt. So tritt dem Leser gleichsam nebenbei auch ein weithin unbekannter Wetterwinkels Europas in seiner aktuellen Verfasstheit entgegen, nämlich das galizische Grenzgebiet  zwischen Polen, der Ukraine und der Slowakei. Was an dem Buch in besonderer Weise überzeugt, ist sein unsentimentaler, aber emphatischer Stil Am Ende entsteht ein  personalisiertes und konkreteres Miniaturbild  des osteuropäischen Holocaust, bei dem die Täter und die Opfer ein Gesicht erhalten. Sie leben fort in einer Erinnerung, die schmerzt, doch es ist gerade diese schmerzhafte Erinnerung, die notwendig ist, denn „nur das was ganz erinnert und neu durchlitten wird, kann überwunden werden“ (Hermann Hesse).

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