Wallace: Kurze Interviews mit fiesen Männern

Wer noch nichts von Wallace gelesen hat, wird mit dem vorliegenden Buch „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ eine neuartige literarische Erfahrung machen – nur: worin besteht diese Erfahrung? Man kann sich ja auch den Mund an zu heißer Milch verbrennen und hat dann eine Erfahrung gemacht – aber eine negative. An den 23 Geschichten des vorliegenden Buches habe ich mir zwar nicht den Mund verbrannt, aber nach der Lektüre war ich erst einmal groggy.

Warum war ich so groggy? Weil die Lektüre der Texte eine Herausforderung darstellt. Wallace-Geschichten erschließen sich nicht, wenn man während der Lektüre Radio hört oder ein Sandwich isst, sie erfordern eine genaue – man könnte fast sagen – eine „hingebungsvolle Lektüre“, einen reifen und leidenfähigen Leser, der dann aber auch mit eine anschauungsgesättigten Sprache und einer formalen Raffinesse belohnt wird, die ihresgleichen sucht.

Zuerst zur Sprache: Wallace Sprache kommt mir vor wie ein UV-Licht, mit denen man Sachverhalte gewahr wird, von deren Existenz man zwar immer etwas geahnt, von denen man aber nicht geglaubt hatte, man könne sie in Worte fassen. Man hat das Gefühl, als würden manche Probleme, Nuancen, Fragen, die in den untersten seelischen Schubladen vor sich hin gammeln, bei Wallace zum ersten Mal rückhaltlos ausgesprochen – und man erschrickt! Die Vatergeschichte (S. 297ff) kann man meiner Ansicht nach niemanden empfehlen, der noch an eigene Kinder denkt – und doch ist sie wahr in einem ganz fundamentalen Sinn.  Und wer „Adult World“ oder „Die depressive Person“ gelesen hat, erhält eine vollkommen neue Vorstellung von der Innenwelt kranker wie scheinbar gesunder Menschen – eine Unterscheidung, an die man nach der Lektüre nicht mehr so recht glauben mag, weil so Vieles, was die Protagonisten in ihren obsessiven Gedankenschleifen immer aufs Neue wiederholen, auch dem scheinbar normalen merkwürdig bekannt vorkommt.

Wallace ist aber nicht nur ein sprachlich und sachlich beunruhigend brillanter Durchleuchter der psychologischen Tiefendimensionen des menschlichen Gemütes und vor allem der menschlichen Sexualität – er ist auch formal ungemein innovativ. Sein poetologoisches Repertoire ist geradezu universell – von der konventionell erzählten Geschichte über die berühmten halbierten Dialoge, von den parallelen Handlungs- und Gedankensträngen in den Fußnoten  bis zur postmodernen Tristan-Geschichte bleibt dem Leser nichts erspart. Er muss also nicht nur genauer lesen als sonst, er muss sich auch noch von Geschichte zu Geschichte auf einen neuartigen formalen Zugang einstellen.

Wirklich entspannend ist das nur, wenn man sich bei der Lektüre Zeit lässt. Mit einer Wallace Geschichte verhält es sich wie mit einem scharf gewürzten Steak: nie mehr als eine am Tag und am besten nicht mehr als ein oder zwei in der Woche. Man hat ein Literaturkonzentrat vor sich, eine Verdichtung im buchstäblichen Sinne des Wortes, die man sich langsam reintun sollte, wenn man sich nicht eine literarische Überdosis verpassen und mit Kopfschmerzen auf dem Sofa enden will.

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