Willy Brandt: Erinnerungen

Brandt ErinnerungenMit Memoiren von Politikern ist es schon ein Kreuz: was erzählt wird, ist zum Teil nicht wahr, und was wahr ist, wird nicht erzählt. Inwieweit die vorliegende Biographie von Willy Brandt von diesem Vorwurf wenigstens teilweise betroffen ist, wird jeder Leser selbst entscheiden müssen. Ich dagegen halte sie für eine der interessantesten Biographien politischer Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts.
Auch wenn viele (wie ich selbst) sich von der Willy-Begeisterung ihrer Studentenzeit inzwischen weit entfernt haben,wird Brandts Leben und Werdegang auch seinen ärgsten Kritikern imponieren. Wo das heutige sozialdemokratische Führungspersonal nichts anderes als Funktionärskarrieren vorweisen kann, ist der junge Brandt lange Wege durch die Verwerfungen unseres Jahrhunderts gegangen, ehe er im Jahre 1969 zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde.
Dabei waren Brandts Anfänge proletarisch im geradezu klassischen Sinne. Als uneheliches Kind wächst der junge Herbert Frahm ( den Namen Willy Brandt legt er sich erst später zu ) bei Mutter und Großvater auf, ohne seinen Vater jemals kennen zu lernen und engagiert sich früh in der sozialistischen Arbeiterbewegung. „Wer sich nicht wehrt, ist nichts wert“(S. 95), kommentiert Brandt seine Flucht aus Nazi-Deutschland und seine Agitation in Norwegen, Schweden, und den Beneluxländern. Die Mörderinstinkte des Kommunismus, die sich im Spanien während des Bürgerkrieges innerhalb der Internationalen Brigaden austobten, wurden für den sozialistischen Politiker ebenso zum prägenden Erlebnis wie die Gräuel der Nazidiktatur.
Nach dem Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt und wieder eingebürgert, macht er in Berlin, der Frontstadt des kalten Krieges, schnell eine Karriere, die ihn bundesweit bekannt macht und 1964 an die Spitze der Sozialdemokratischen Partei führt. Ein Großteil des Buches ist diesem Aufstieg und der Kanzlerschaft gewidmet, aber auch über die Jahre nach 1974, seine Arbeit als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale sowie seinen maßgeblicher Einfluss auf den Linksruck der SPD werden, wenngleich ein wenig weichgespült, ausführlich berichtet. Wer sich für die internationale Politik in alle Ihren Verzweigungen zwischen dem schwierigen amerikanischen Partner und Frankreich „der Großmacht honoris causa“ (S. 245) interessiert, wird voll auf seine Kosten kommen.
Auch wenn man über die wirklich delikaten Einzelheiten, wie etwa den Stimmenkauf bei dem gescheiterten Misstrauensvotum der CDU/CSU 1972 gegen Brandt oder die geheime Verschickung von Waffen an die chilenische Linke unmittelbar vor dem Pinochetputsch, in dem Buch nichts lesen wird, halte ich die Art der Darstellung. soweit dies in einer Politikerbiographie möglich ist, für insgesamt ehrlich und um Ausgewogenheit bemüht. Der sprachliche und moralische Zugriff ist immer vornehm und um Überparteilichkeit bemüht. Seinem übergroßen Antagonisten Adenauer ist in dem Buch sogar ein schönes und großherziges Portrait gewidmet. Sogar gegenüber Wehner verkneift sich Brandt wirklich bittere Worte, und dass ihm die Stöcke, die er in der Endphase der Kanzlerschaft Schmidt seinem großen innerparteilichen Rivalen zwischen die Füße warf, als legitime Interventionen erscheinen, wer will ihm das verdenken? Dass er auch nicht einsehen will, warum seine einsame Entscheidung im Jahre 1987 als Parteisprecherin eine Außenstehende zu wählen, die Partei erzürnte und nach 23 Jahren Parteivorsitz zu seinem Sturz führte – geschenkt. Dass er aber noch im Jahr des Mauerfalls, wenige Monate vor der Agonie und dem Untergang des kommunistischen Blocks von den tektonischen Erschütterungen des geschichtlichen Unteegrundes nichts wahrnimmt, dass er die Freiheitsbewegungen des Ostblocks kaum thematisiert und stattdessen jedem der Bentonkopfgeneralsekretäre des Warschauer Paktes ausführliche Betrachtungen widmet und die unmittelbar bevorstehende deutsche Einheit so gar nicht auf dem Schirm hatte, kennzeichnet den späten Willy Brandt dann doch wie viele Sozialdemokraten seiner Epoche als einen tief im Status quo verhafteten Politiker.Brandt Erinnerungen

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