Winterling: Caligula

Warum in aller Welt soll man eine Biografie über Caligula lesen? Seit der Antike hatte kein  römischer Kaiser eine derartig schlechte Presse wie der dritte Kaiser des julisch-claudischen Kaiserhauses (37-41). Spätestens seit dem halbpornografischen Hollywoodschinken „Caligula“ mit Malcolm MacDowell in der Titelrolle steht das Urteil fest: Caligula war der Inbegriff eines blutrünstigen Tyrannen, dessen frühes Ableben  niemand ernsthaft bedauern wollte

Aloys Winterling, der Autor des vorliegenden Buches, aber ist anderer Meinung. Er verdächtigt Tacitus, Sueton, Cassius Dio und die anderen antiken Historiker der Geschichtsverfälschung. Winterlings Meinung nach geben sie nachweisbar falsche Informationen, unterschlagen Fakten, die ihrer vorgefertigten Meinung widersprechen und reißen die Handlungen des Kaisers aus dem Zusammenhang. Ob das stimmt, kann der Leser nur sehr eingeschränkt beurteilen, denn andere Gewährsleute als die römischen Autoren stehen auch Winterling nicht zur Verfügung. Stattdessen nähert er sich den Quellen hermeneutisch, abwägend, seinem Protagonisten tritt er psychologisch-empathisch gegenüber und entwickelt auf diese Weise zu einem neuen Caligula Bild. Neu mag es sein, ob es auch richtig ist, bleibt trotzdem die Frage

Winterling beginnt seine Biografie mit einem Abriss der Familiengeschichte. An der Seite seines berühmten Vaters Germanicus verlebt der junge Gaius Julius Cäsar (so sein Name in Anlehnung an den großen Cäsar)  eine unbeschwerte Jugend und sonnt sich in der Zuneigung der Legionäre, die den kleinen Racker, der im Lager herumläuft,  „Stiefelchen“ (Caligula) nennen. Dann aber stirbt der Vater, und die Familie des Germanicus gerät in schweres Wasser. Während sich der alte Kaiser Tiberius (14-37) auf Capri dem Wohlleben ergibt, lässt er seinen allmächtigen Prätorianer Seianus blutige Ernte unter allen wirklichen und vermeintlichen Gegnern halten, vor allem unter Angehörigen der Familie des Germanicus, die weit populärer war als die Familie des Kaisers. Erst als es Seianus übertreibt und kaisergleiche Ehren anstrebt, zieht der alte Kaiser seine Hand von ihm, stürzt den Seijanus  und erklärt seinen Großneffen Caligula zum Thronerben.

Umso überraschender erscheint Caligulas Regierungsantritt. Der junge Kaiser verteilt großzügige Geschenke an die römischen Bürger, beendet alle Hochverratsprozesse und versucht, dem augusteischem Vorbild nacheifernd, als „Princeps“ zu Herrschen.  Augustus (30 v. bis 14 n. Chr.) war es gelungen, als   den römischen Bürgerkrieg zu beenden, indem er als Princeps, als „erster unter gleichen“ durch seine taktvolle Herrschaftsausübung die Senatoren mit der faktischen Alleinherrschaft versöhnte.

Wie konnte es denn dann zu Caligulas Entartungen kommen, mag man fragen. Winterlings Antwort ist eindeutig. Es waren Senatoren gewesen, deren Verschwörungen den jungen  Kaiser verbitterten. Durch die Erfahrungen seiner Jugend ohnehin gefährdet, habe er sich erst durch die Intrigen seiner Umgebung zum Monster entwickelt. Die Zäsur datiert Winterling schon auf das erste Regierungsjahr 37 BC, als Caligula schwer erkrankte und seine Berater bereits seine Nachfolge vorbereiten. Das aber begreift der junge Kaiser  als Putschversuch, so dass er, kaum genesen, blutig unter seinen Mitarbeitern aufräumt. Einmal im Schwung, nimmt er Abschied vom taktvollen Prinzipat und lässt, wie der Kölner sagen würde, „die Sau raus“. Er ernennt sein Pferd zum Konsul und presst den Senatoren unter dem Etikett der „kaiserlichen Freundschaft“ ruinöse Geschenke ab.  Höhepunkt der Verspottung aller aristokratischen Traditionen ist der skandalöse Auftritt des Kaisers auf der Hochzeit einer Patriziern, auf der er die Trennung der Braut vom Bräutigam erzwingt, um sie selbst zu heiraten. Besonders nobel findet das auch Winterling nicht, aber immerhin, so Winterling, habe es „kein Massaker“ gegeben. Noch nicht, möchte man einwenden, denn  bei der Niederschlagung  der großen Verschwörung des Jahres 39 rollen reichlich Köpfe.  Je mehr er sich mit  Speichelleckern und Halunken umgibt, desto mehr liebäugelt er  mit dem Gottkönigtum nach hellenistischem Vorbild und überlegt ernsthaft, den Herrschaftssitz von Rom nach Alexandria zu verlegen. Das einfach Volk hat er ohnehin auf seiner Seite, denn dass der Kaiser die senatorische Oberschicht massakriert, kommt beim Pöbel und bei den Soldaten gut an.

Doch Caligulas Ende kommt schneller als erwartet. Ein Senator nach dem nächsten springt über die Klinge – bis einer von ihnen im Angesicht des Todes die engste Umgebung des Kaisers der Verschwörung beschuldigt. Auch wenn Caligula diese Anschuldigungen zunächst nicht zu glauben scheint, fühlen sich Caligulas Vertraute nun ihres Lebens nicht mehr sicher. Was, wenn sich der launische Kaiser eines Tages dieser Anschuldigungen erinnert? Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die neurotische Atmosphäre am Kaiserhof, dass Calistus, einer der beiden Befehlshaber der Prätorianer, in dieser Situation die Nerven verliert und Caligula abschlachten lässt.

Das Buch endet mit dem Kapitel über „die Erfindung des wahnsinnigen Kaisers“, was den Leser einigermaßen verwundert. Denn die biografischen Details, die der Autor referiert, zeigen einen üblen Wüstling, dem der Autor ein wenig zu viel Empathie zukommen lässt. Überspitzt könnte man sagen: bei Caligula lief es umgekehrt wie bei Augustus. Augustus war als Octavian in der Spätphase der römischen Republik ein Monster und wurde erst als Kaiser zum Princeps und  Friedensherrscher. Caligula begann als Friedensherrscher und wurde zum Monster. Warum, weiß der niemand, und auch die Erklärung des Autors vermag nicht zu überzeugen.  Trotzdem habe ich das vorliegende Buch mit Gewinn gelesen. Der Autor erzählt kurzweilig und unterhaltsam und entführt den Leser in eine Zeit, die, was ihre Blutrünstigkeit betrifft, die meisten Netflix-Serien um Längen schlägt.

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