Witzani: Europas wilder Osten

Der Osten Europas ist ein weites Feld, vor allem, weil es davon mehrere gibt. Das jedenfalls ist die Meinung von Ludwig Witzani, dem Autor des vorliegenden Buches über „Reisen durch Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine“, die er als „Europas wilden Osten“ bezeichnet. „Wild“ ist dieser Osten  nicht in Bezug auf irgendeine zivilisatorische Rückständigkeit, sondern weil  er sich auch dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus noch immer in einem kaum steuerbaren Prozess der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation befindet, die den Menschen Opfer abverlangt, die weit über das hinausgehen, was etwa Polen, Ostdeutschen oder Tschechen zugemutet wurde.

Maramures

Diesen „wilden Osten“ bereiste der Autor mit Eisenbahnen, Bussen, Fähren und Privatfahrzeugen und begegnete dabei, wohin er auch kam, den Spuren der Geschichte –  vor allem anhand der Schäden, die hier wie überall in der Welt die kommunistische Gewaltherrschaft der kulturelle Substanz der Völker zugefügt hat. Aber auch die deutsche Besatzung im zweiten Weltkrieg zog eine Blutspur durch die Region, die bis heute nicht vergessen ist. Noch immer gegenwärtig ist die 500 Jahre während Türkenherrschaft, die politisch unkorrekt, aber wahrheitsgemäß als einer der Gründe dafür benannt wird, dass diese Gebiete in einen Entwicklungsrückstand gegenüber dem Westen gerieten. In Maramures besucht der Autor das „Museum der Opfer des kommunistischen Totalitarismus“ und fragt sich, warum es so etwa nicht im Westen gibt. In Sewastopol betrachtet er die russische Schwarzmeerflotte und spaziert durch die Ruinen von Chersonesos, in dem die Geschichte des christlichen Russlands begann. In den Höhlenklöstern von Kiew reicht die Erinnerung zurück bis in die Epoche der Waräger, und im rumänischen Targoviste erinnern Ruinen an Vlad Tepes III, aus dem das mitteleuropäische Schauerbedürfnis den blutigen Grafen Dracula destillierte. Wie einer kuriosen Zwischenwelt erscheinen Tirapsol und Transnistrien, in denen, von der Welt vergessen,  eine Chimäre aus Sowjetnostalgie und Raubtierkapitalismus entstanden ist.

Ernüchternd sind die Gespräche, die der Autor mit vielen Einheimischen führte. Die Menschen sind enttäuscht von der Freiheit – nicht, weil sie sie nicht schätzen würden, sondern weil sie ihnen oft nur in Gestalt von Korruption und Kriminalität gegenübertritt. Die ukrainischen Oligarchen und die rumänischen Sozialdemokraten lassen grüßen.

Vieles, von dem, was der Autor erlebt, stellt sich anders dar, als es die Leser unser Mainstreammedien erwarten würden –  was in besonderem Maße für die ukrainische Revolution und die russische Annexion der Krim zutrifft.  Was in der herrschenden Berichterstattung überhaupt nicht mehr vorkommt, sind die Erinnerungen an das Ende der deutschen Siedlungsvergangenheit Hunderttausende, teilweise seit Generationen vor Ort ansässige deutsche Familien  wurden aus dem Banat, Siebenbürgen, der Bukowina  oder Bessarabieen vertrieben,  ein Drama, dessen Details innerhalb einer geschichtsvergessenen Epoche längst entsorgt worden sind.

  Es ist aber nicht nur die Geschichte, die dem Reisenden im wilden Osten Europas begegnet, auch Freunde von Landschaft und Naturerlebnissen kommen auf ihre Kosten –  etwa am imposanten Donaudurchbruch an der serbisch-rumänischen Grenze, in die  zauberhaften Hügellandschaften der Moldauregion oder an den zauberhaften Anmutungen des Südens, wie man sie auf der südlichen Krim findet.

Am Ende fragt sich der Autor: Was bleibt? und gibt eine ambivalente Antwort. Er ist durch geschichtsgesättigte Region gereist, die im Hinblick auf das, was man „das Glück der Völker“ nennt, schlechte Karten gezogen hat, die sich aber auf dem Weg des Wandels befindet und zwischen Korruption und Hoffnung ein neues Gesicht gewinnt. Wen die Länder, die es in dem vorliegenden Buch beschrieben werden,  interessieren oder wer eine Reise in diese Region plant, ist mit „Europas wildem Osten“ bestens bedient.

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