Wolfe: Ich bin Charlotte Simmons

Wolfe Ich bin Charlotte SimmonsJahrtausendelang war die Jugend ein heterokephaler Generationenverband, was bedeutet, dass eine andere, eine ältere Generation die Regeln ihres Zusammenlebens bestimmte. Seit dem letzten Jahrhundert hat sich das geändert, eine Jugendkultur ist entstanden, die sich autokephal( selbstbestimmt ) gibt und ihrerseits sogar die anderen Alterskohorten beeinflusst.  Ist das nicht prima, möchte man fragen, wenn zum Beispiel im akademischen Milieu die muffigen Werte der Alten durch die frischen Ansichten der Jungen auf Vordermann gebracht werden? Im Prinzip ja, würden Radio Eriwan  und Tom Wolfe antworten, aber nur, wenn die Werte der neuen akademischen Jugendkultur der Vereinigten Staaten überhaupt Werte wären und nicht nur ein aufgeblähtes Konglomerat aus Saufen, Vögeln und Rüpeln bis zum Abwinken. Wie? Havard, Yale, Princeton, Hochburgen des Geistes und Brutstätten unzähliger Nobelpreisträger, lauter akademische Sodoms, in denen die nächtlichen Orgien wichtiger als die Seminare sind? Ja, sagt Tom Wolfe, Amerikas „Mister Zeitgeist“, so sieht es aus, und es ist höchste Zeit der staunenden Welt am Beispiel der fiktiven Spitzenuniversität Dupont zu zeigen, was unter der Decke der Reputierlichkeit auf dem Campus so abgehen. Unter der zukünftigen Elite der Nation zählen im alltäglichen Umgang  Coolness bis zum Abwinken, ein Herunterspielen der eigenen Leistungsbereitschaft, es zählen Bekanntschaften, Prestige und Ansehen, die nicht an akademischen Leistungen sondern auf einer imaginären Skala der Zugehörigkeit zu einer entfesselten Sauf- und Fickgemeinschaft gemessen werden. Kommuniziert wird unter den Mitgliedern dieser Gemeinschaft in einem Code der besonderen Ar,  in deren Mittelpunkt Variationen der Worte „fuck“ ( S.42f. ) und „shit“ ( S. 506) stehen.  Die intentionalen Sprechakte werden  entsprechend einer Sarkasmus-Skala von 1 bis 3 ( Sark 1- 3 ) reguliert.  Gewohnt wird in gemischten Wohnheimen mit Unisex-Toiletten und -Duschen, in denen auch dem Schwerhörigsten nichts Menschliches fremd bleiben kann. Gevögelt wird natürlich auf en Zweibettzimmern, so dass die sich Mitbewohner ihrerseits entweder woanders vergnügen oder ins „Sexil“ in die Einganshalle müssen.

Soweit so interessant – aber wie kann man aus diesem zeitdiagnostisch viel zu wenig bekannten  Befund einen Roman gestalten, der den Leser fast 800 Seiten bei der Stange hält? Tom Wolfe versucht es mit der Kunstfigur Charlotte Simmons, einem kreuzbraven, hochbegabten Mädchen aus dem Gebirgsnest Sparta in North Carolina, das es nach Dupont verschlägt,  wo sie ganz im Unterschied zu ihren Erwartungen mit der ungefilterten Realität des pseudoakademischen Lebens konfrontiert wird und dabei fast unter die Räder kommt. Als Provinzkind findet sie keinerlei Anschluss, wird von den elitären Elite-Zicken der Privatschulen geschnitten und verachtet, ihre zaghaften Versuche, sich zu integrieren enden im Fiasko und die Studenten, die sie kennen lernt, spiegeln  jeder auf ihre Weise Duponts Misere wieder. Da ist zunächst „Jojo“ Johannsen, ein begnadeter, über zwei Meter großer Basketballspeiler, der in der berühmten Basketballformation von Buster Roth spielt, deren Mitglieder ihren Aufenthalt nur als Durchlauferhitzer für eine Profikarriere in der nationalen Liga sehen. Sein Intelligenzquotient steht in einer reziproken Beziehung zu seiner außergewöhnlichen Sprungkraft, seine Scheine lässt er sich von den sogenannten Tutoren  schreiben, armen studentischen  Underdogs, die für ein paar Dollar den Sportgöttern die Pizzen besorgen und die Noten frisieren müssen. Ein solcher Underdog ist Adam Gellin, ein leptosomer, von Ehrgeiz zerfressener aber auch ein wenig feiger Student, der als einer der wenigen außerhalb des Campus lebt und nicht weniger nach  Anerkennung giert als seine Kommilitonen. Der dritte und schönste im Bunde ist Hoyt Thorpe, der Vormann der Frat-Boys, einem extracoolen Studentencircle, in dessen nächtlichen Partyräumen die „Freshmen“ die jungen Studentinnen reihenweise defloriert und anschließend der öffentlichen Verachtung preisgegeben werden.  Charlotte Simons, die gottlob nicht nur intelligent und fleißig sondern auch noch sehr schön ist, kommt mit alle dreien in Kontakt, und wie der Satan es will, verliebt sie sich in den schönen Hoyt, der sie im Anschluss an einen studentischen Jahresball in brutaler Weise entjungfert. So läuft das eben auf dem Campus, mag man denken, nicht nur bei Charlotte sondern auch bei ihrer Freundin Laurie „Auch sie hatte den unverbindlichen Fick über sich ergehen lassen und war als ganzer Mensch daraus heervorgegangen.“ (S. 633). Charlotte aber verfällt nach ihrer Entjungferung in eine tiefgreifende Depression, aus der sie nur der leptosome Adam rettet, der in dieser Phase der Simmon´schen Schwäche seine Chance sieht. Aber das wird nichts draus, er ist doch zu „kantig“, stattdessen liiert sich Charlotte  nach ihrer spontanen Remission mit dem Baskenballer  „Jojo“ Johannesen, der plötzlich nicht nur seine Liebe zu Sokrates und dem akademischen Studium entdeckt sondern auch noch seine sportliche Leistungsfähigkeit auf einen kaum für möglich gehaltenen Level steigert.

So weit die Handlung des Romans, die  leider auch über den gesamten Text nicht weniger holzschnittartig anmutet, als in dieser kurzen Zusammenfassung. Tom Wolfe ist ein Meister der kurzen und prägnanten Erzählung, der Skizze, mit der auf wenigen Seiten einen Sachverhalt transparent werden lässt ( absolut lesenswert etwa die Analyse der Zeitschrift  „Cosmopolitain“ S.167 oder der Verlogenheit einer Solidaritätsdemonstration für schwule Studenten S. 694ff.)  – aber in dem vorliegenden Roman ist er kein Epiker. Das Hin und Her der oben dargestellten Abläufe  ist mitunter recht zähl zu lesen, und selbst Tom Wolfe Fans  werden sich fragen ob fast einhundert Seiten für die Vor- und Ablaufgeschichte der Deflorationsparty oder fünfzig Seiten für das Weihnachtsessen der Simmons in Sparta wirklich sein müssen. Parallel zu diesem manchmal ins Banale ausufernden Hauptstrang der Erzählung hat der Autor  drei  allgemeine „Treiber“ eingebaut, drei Handlungsketten, die die Figuren zueinanderbringen und in eine exemplarische Beziehung setzen sollen und anhand derer sich im besten Fall ein großes universitäres Gesamtpanorama ergeben könnte. Da ist zunächst ein nächtliches Techtelmechtel, bei dem der Gouverneur von Kalifornien sich im Park von einer Studentin oral verwöhnen lässt, eine vermeintliche Diskriminierung der homosexuellen Studenten von Dupont und ein Plagiatsverfahren, bei dem der finanziell  immer klamme Adam dem Basketballstar Jojo ein Referat geschrieben haben soll – man sieht lauter Geschichten, die das Leben schreibt, die aber im Roman nur gelegentlich auftauchen wie Ertrinkende, die nach  Luft schnappen. Der Hauptmangel des Romans aber besteht in der Psychologie der Hauptperson, von der man sich von Seite zu Seite dringlicher fragt,  woraus eigentlich die immer wieder beschworene herausragende Begabung von Charlotte Simmons bestehen soll.  Sie sehnt  sich nicht weniger nach Anerkennung als die anderen, sie ist nur erheblich verklemmter, sozial auf eine erschreckende Weise inkompetent und hilflos, und dass sie am Ende, als sie hochgeachtet in der Loge von Jojo Johannsen sitzt,  hat sie nicht ihrer neunmalklugen Angelesenheit  sondern auch nur ihrem Aussehen zu verdanken.  So bleiben am Ende des Buches zwiespältige Gefühlte zurück. Wie schon in „Fegefeuer der Eitelkeiten“ und „Ein ganzer Kerl“  hat man einen Ausschnitt der Wirklichkeit auf eine neue und frappierend interessante Weise sehen gelernt, muss sich aber  eingestehen, dass die Handlung und die dabei auftretenden Personen  dafür nur  Aufhänger waren.  Für Literaturliebhaber mit einem feinen Sensorium für Psychologie und formale Raffinessen  deswegen zweifellos eine Enttäuschung. Für Liebhaber einer reportageartigen Reproduktion moderner Wirklichkeiten über 787 Seiten aber mit  Gewinn zu lesen.Wolfe Ich bin Charlotte Simmons

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