Wossen-Asserte: Ein Prinz aus dem Hause David

Wossen-Asserate _Ein Prinz sitzt am Kamin und denkt über sein Leben nach, seine vornehme Herkunft, sein Lieblingsland Deutschland, den richtigen Dresscode zum richtigen Anlass und die Missetaten der Kommunisten, die sein Heimatland Äthiopien in einem Meer von Blut ertränkten. Das lädt ein zur Ironisierung, was aber völlig unangebracht wäre. Denn das vorliegende Buch ist ein Glücksfall, das gleich zweierlei leistet: zunächst bietet es einen fundierten Einblick in eine fremdartige Kultur (was per se schon mal gut ist) und – was ich noch interessanter finde: es hält seiner Wahlheimtat Deutschland einen Spiegel vor. Nicht mit allem, was der Autor mitunter aus einer dezidiert altväterlichen Perspektive schreibt, muss man einverstanden sein, aber seine Urteile sind nachvollziehbar und fast immer gut begründet. Der Stil ist so geschliffen, wie man es manchem biodeutschen Autor wünschen würde und der Bildungshintergrund von staunenswerter Breite.

Das Buch beginnt im Jahre 1974, als der junge Asfa als Student in Deutschland am Radio erfährt, dass in Äthiopien das Militär die Macht übernommen und ein Blutbad unter der Aristokratie angerichtet hat. Auch Asserates Familienangehörige, die zu den höchsten Kreisen des Landes zählen,  befinden sich unter den Toten. Höchste Kreise bedeutet, dass der  junge Asfa ist ein Prinz aus dem Hause David ist, das heißt, ein Nachfahre König Salomos und der Königin von Saba, die vor dreitausend Jahren Menelik I, den ersten König Äthiopiens zeugten. So steht es jedenfalls im Kebra Negast, der äthiopischen Königsgenealogie aus dem 14. Jahrhundert und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Wie es sich auch immer mit König Salomo und der Königin von Saba verhalten haben mag, Asfa Wossen-Asserate wurde als Großneffe des Kaisers im Jahre 1948 in Addis Abeba geboren.   Er wuchs auf in der großzügigen Residenz – oder sollte man eher sagen: Palast – seines Vaters oberhalb von Addis Abeba und erinnert sich mit Wärme im Herzen an die 117 Diener, an Tanten, Vettern und sogar den Kaiser, der gerne in seiner gepanzerten Chrysler-Limousine  durch die Stadt fuhr und durch die halb geöffneten Fenster Geldscheine an seine Untertanen verteilte. Seine Erziehung war geprägt von Riten und Traditionen, was der Autor im Nachherein voll in Ordnung findet, denn  Riten, so der Autor an einer anderen Stelle sind die notwendige „Beimischung zum Leben, damit es nicht verfault“. Zwar wunderte sich der  kleine  Asfa, dass sich der Vater des Prinzen, immer wenn der Kaiser ihn anrief, sich sofort mit seinem Telefonhörer flach auf den Bauch legte und die Proskynese selbst in Abwesenheit des Allerhöchsten durchführte. Er ärgerte sich über die langen Tischgebete vor den  reichhaltigen mahlzeigten (ein Problem dass die meisten Äthiopier dieser Zeit wahrscheinlich weniger bedrängte). Doch er liebte die äthiopischen Gottesdienste, die selten unter vier Stunden abliefen und in ihrer Opulenz seine Fantasie anregten.  So wuchs der kleine Prinz heran, wohl behütet und eingebettet in ein höfisches Zeremoniell, zugleich aber einer strengen Zucht unterworfen, denn der Vater verlangte, von den Erziehern seinen Sohn immer doppelt so streng wie normale Kinder zu betrafen. Es gab also reichlich Prügel in der Jugend des kleinen Prinzen, was ihm aber nach seiner eigenen Einschätzung keineswegs geschadet hat. Die nächste Sprosse seiner Erziehung erklomm der kleine Prinz, als er in die neugegründete  deutsche Schule in Addis Abeba eintrat.  Diese deutsche Schule, so der Autor rückblickend, veränderte sein Leben, sowohl, was die Qualität der Pädagogen wie die Breite des Unterrichtsstoffes betraf.  „Im Deutschunterricht standen die Klassiker der deutschen Literatur an vorderster Stelle. Wir lasen nicht nur den Werther, die Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meister und die meisten der Goetheschen Dramen, wir führten in der Laienspielgruppe auch den Urfaust auf.  Wir lasen Klopstock und Lessing, Schiller, Eichendorff und Brentano, Heine und Keller, Thomas Mann und Günter Grass und die Lyrik vom Barock über die Romantik bis hin zum Expressionismus. Und selbstverständlich haben wir Gedichte auswendig gelernt!“ Später würde er als Hospitant eines Deutschunterrichts in Hessen schockiert zur Kenntnis nehmen müssen, auf was für ein jämmerliches Niveau der Deutschunterricht herabgesunken war. Und das war in den späten Sechziger Jahren gewesen, wie es heute in den Schulen aussieht, dürfte man dem alten Prinzen wahrscheinlich gar nicht mehr erzählen

Je weiter man in der Lektüre fortschreitet, desto klarer wird: dass Asfa Wossen-Asserate ist ein vornehmer, aufgeklärter  Konservativer,  für den es nur eine Todsünde zu geben scheint: schlechte „Manieren“ (so der Titel seines ersten erfolgreichen Buches, das von Hans Magnums Enzensberger verlegt wurde). Schlechte Manieren hat zum Beispiel, wer zum Cut den falschen Zylinder wählt – oder noch schlimmer: wer wie Frau Merkel im Hosenrock zum Papst geht, während sie in Bayreuth im Kleid aufläuft.

Aber zurück zum Lebenslauf des Prinzen. Im Jahre 1960 erschütterte ein Militärputsch das äthiopische Kaiserreich, der nur mit Mühe niedergeschlagen werden konnte. Doch der Kaiser wusste die Zeichen an der Wand nicht zu lesen. Hohe Würdenträger, unter ihnen auch der Vater des Autors,  die dem Kaiser land- und Bildungsreformen vorschlugen, anden kein Gehör. Stattdessen wurde der Vater nach Asmara in die Provinz Eritrea versetzt, wo er als Statthalter eine Politik der Verständigung betrieb, die aber scheiterte. Dazu muss man wissen, dass die Bewohner Eritreas ebenso wie die benachbarten Äthiopier an der Berggrenze Äthiopiens Tigray oder Tigriner sind, allerdings sind die Tigriner in Eritrea Moslems und die Tigray in den äthiopischen Bergen Christen. Eine Eritreerin, genau genommen, eine Triginerin, die Tochter des Bürgermeisters von Asmara, wurde seine erste Liebe. Sie sollte später an den Wirren der äthiopischen Revolution scheitern.

Im Jahre 1968 begann der kleine Prinz, der nun schon ein mittelgroßer Prinz war, sein  Studium in Deutschland, genauer gesagt, in Tübingen, obwohl sein Vater England vorgezogen hätte. Der Mohr aus dem Morgenland trat auf wie eine Figur aus einer anderen Welt, wurde von seinen Corps-Brüdern aber freundlich aufgenommen. „Meine Corps-Brüder übertreiben maßlos, wenn sie behaupten, ich sei mit vierzig Koffern angereist,“ notiert Asfa Wossen-Asserate. „Gewiss, es waren wohl einige Schrankkoffer unter meinem Gepäck und ein Hutkoffer für meinen Zylinder – irgendwo muss die Garderobe eines Herrn ja schließlich verstaut werden.” Die Ablehnung von Corps und Burschenschaften, die inzwischen ja fast zu einem Ausweis guten Geschmacks geworden ist, erscheint dem Autor auch heute noch  ganz und gar unverständlich. Für Asfa waren die Studentenverbindungen in erster Linie fröhliche Freizeitvereine, gegen die politisch nichts einzuwenden sei.  Sein eigenes Corps „ gehörte übrigens zu jenen Corps, die im Dritten Reich bis zuletzt dem Antisemitismus widerstanden. Als die NSDAP 1934 den Ausschluss der sogenannten Judenstämmigen und jüdisch Versippten aus den Verbindungen forderte, verweigerte dies das Corps Suevia zusammen mit vier weiteren Corps in Deutschland. Dem schändlichen Kotau zog man die Selbstauflösung vor.” Ansonsten ging die Zeitz der Studentenrevolte in Tübingen an Wossen-Asserate leidlich vorbei, auch wenn er Gudrun Ensslin flüchtig kennenlernte. Irgendeine Diskriminierung wegen seiner Hautfarbe ist ihm Übrigens niemals wiederfahren. Bald wechselt er nach Cambridge, wo er sich über die intensive Arbeitsatmosphäre wundert und die berühmte Universität  als ein Reich der „Ewigen Jugend“ kennenlernt.

Inzwischen spitzten sich die Verhältnisse in  Äthiopien weiter zu. Der Kaiser verschloss sich noch immer allen Reformideen. Eine verschwenderische Aristokratenhochzeit während einer entsetzlichen Hungersnot auf dem Land brachte das Fass schließlich zum Überlaufen.  Im Sommer 1974 begann der Umsturz mit einer Meuterei von Soldaten an der kenianischen Grenze, denen sich ein Ausstand der Taxifahrer in Addis Abeba anschloss, weil  die Benzinpreise infolge der Ölkrise erhöht werden sollten.  Schnell schlossen sich andere Gruppen und Regimenter dem Protest an, und das System implodierte. Immer radikaler und deutlicher wurden die Proteste, immer zaghafter agierte die Regierung. Der „Derg“, ein revolutionärer Rat, errang die Macht, und als innerhalb dieses Rates die Radikalen die Oberhand gewannen, trat die Revolution in ihre Terrorphase ein. Der Kaiser wurde unter Hausarrest gestellt, und die Angehörigen des alten Regimes wurden verhaftet.  69 führende Persönlichkeiten des Landes, darunter auch der Vater des Autors, wurden  am 23. September 1974 in einer Nacht- und Nebelaktion erschossen. Die Bolschewiki lassen grüßen. Ein dreiviertel Jahr später wurde  auch der alte Kaiser auf eine bis heute nicht geklärter Art umgebracht. Seine Leiche wurde unter den Dielen des Palastes verscharrt. Erst nach 1990 sollte sie geborgen und im Jahre 2000  feierlich beigesetzt werden. Bald begann  die Revolution auch Anhänger und Mitläufer zu fressen.  Schließlich traf es  auch den Patriarchen der äthiopisch-orthodoxen Kirche, der zu den Verhaftungen und Morden geschwiegen hatte und am Ende in einem Militärgefängnis zu Tode gefoltert wurde.

Für den Autor begann nach der Errichtung der äthiopischen Mengistu-Diktatur die Zeit des Exils. Er versuchte von Deutschland aus alle möglichen Kontakte dazu zu nutzen, seine Schwester und seine Mutter frei zu bekommen. Erst 1988 sollten die weiblichen Angehörigen des Kaiserhauses nach jahrelanger Isolationshaft freikommen (Im Tausch gegen eine Kreditzusage der EU an das diktatorische Regime). Wossen-Asserate organisierte eine oppositionelle Auslandsvertretung und initiierte Aufrufe internationaler Organisationen zugunsten der Freilassung politischer Gefangener, traf die Queen, den Schah (der kurz darauf selbst stürzte) und schrieb an die Regierungschefs Europas.

Derweil dreht sich das Rad des Verhängnisses weiter. „Im Juli 1977 nutzte der somalische Staatschef Siad Barre die Schwäche der äthiopischen Zentralregierung, um in Äthiopien einzufallen – mit einer Armee, die in den Jahren zuvor von der Sowjetunion hochgerüstet worden war. Nun kehrte Moskau dem somalischen Sozialismus den Rücken und wandte sich dem äthiopischen Sozialismus zu. Die Sowjetunion schickte Kriegsgerät, und Kuba 18 000 Soldaten, die an der Seite Mengistus gegen Somalia kämpften  (…) Die DDR schickte Spezialkräfte und militärische Berater, der äthiopische Geheimdienst wurde von Offizieren der Staatssicherheit aufgebaut. Viele der Lehrmeister aus Ostberlin waren in den Gefängnissen Mengistus selbst an Folterungen beteiligt, ein finsteres Kapitel der äthiopisch-deutschen Geschichte, das bis heute kaum aufgeklärt ist”, schreibt Wossen-Asserate. Den Sozialismus in seinem Lauf hielten weder Leichen noch Hunger auf.

Erst als der Ostblock zusammenbrach und dessen Unterstützung für das Mengistu-Regime ausblieb, erlag der totalitäre Sozialismus den vereinigten Kräften der Eritrea-Sezessionisten und der einheimischen  Tigray Rebellen (aus letzterer entstand die heutige Regierungspartei ERPDF). Der Massenmörder Mengistu floh nach  Simbabwe, wo er bis heute unbehelligt lebt.  Auch wenn die Menschen über die neu erworbene Freiheit jubelten (im Unterschied zur griesgrämigen Stimmung, die der Autor bei der deutschen Wiedervereinigung bemerkte), wurden die wirklichen Problem des Landes nach dem Sturz Mengistus nicht gelöst. Eine neue Verfassung spaltete das Land in strikt ethnisch fundierte Provinzen, die weitgehende Selbstverwaltung bis hin zum Recht auf Sezession erhielten. Allerdings, so der Autor, „sind bis heute sind alle wichtigen Schaltstellen der Macht mit Abkömmlingen der Tigray besetzt, der auch Staatschef Meles Zenawi entstammt.“ An der Verstaatlichung des Landes wurde nichts geändert. „ Bis zum heutigen Tag gibt es in Äthiopien kein Land im Privatbesitz. Einst waren die Bauern die Pächter des Kaisers, heute sind sie die Pächter des Staates“, kritisiert  Wossen-Asserate.

Das Buch endet mit zwei feierlichen Begräbnissen.   Im November 2000 wurden die sterblichen Überreste des Kaisers unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in der Kathedrale von Addis Abeba überführt. Dabei traf der Autor übrigens die Witwe Bob Marleys und die aus Jamaika angereisten Rastafaris, die den ermordeten Kaiser als neuen afrikanischen Erlöser verehrt hatten. Ein noch größerer Augenblick als die feierliche Beisetzung des Kaisers war für den Autor jedoch der Tag , an dem die sterblichen Überreste der sechzig ermordeten Adeligen, unter ihnen auch der Vater Wossen-Asserates, ihr letztes Geleit erhielten.

Damit aber waren die guten Nachrichten, was Äthiopien betraf, auch schon beendet. Als der Autor im Jahre 2005 aus Anlass des fünfzigjährigen Jubiläums der deutschen Schule in Addis Abeba eine Festrede halten sollte, fiel der Termin wegen politischer Unruhen infolge massiver Wahlfälschungen der Regierungspartei aus. Auch wenn der Autor es sehr vorsichtig anspricht, bleibt die Lage des Landes kritisch. Äthiopien  versinkt in einem Sumpf von Bevölkerungsexplosion und Korruption. Die Idee Äthiopiens verblasst, weil sich die meisten Menschen eher als  Tigray, Amharen, Omoro oder Somali begreifen.

So bleibt dem Autor am Ende nur die Freude an seiner neuen Wahlheimat. „Ein Leben ohne die deutsche Sprache, ohne das deutsche Theater und ohne die Musik Bachs, Beethovens und Mozarts kann ich mir nicht mehr vorstellen“, schriebt Asfa Wossen-Asserate am Ende des Buches. „Und ganz gewiss auch nicht ein Leben ohne die deutsche Literatur. Als ich zum ersten Mal in Deutschland eine Buchhandlung betrat, ging mir förmlich das Herz auf. All jene Schätze der deutschen Literatur, von denen mir meine deutschen Erzieherinnen und meine deutschen Lehrer in Addis Abeba so viel erzählt hatten, waren hier an einem Ort versammelt. Eine deutsche Buchhandlung erschien mir wie eine Bundeslade des Geistes, und so ist es bis heute geblieben.” Ist es peinlich, wenn man als Deutscher solche Zeilen nicht ohne eine gewisse Rührung liest? Welch ein  Unterschied zu Äußerungen wie „Köterrasse“ (Alik Karabulut) „Völkersterben von seiner schönsten Sorte“ (Deniz Yücel) und dem kompletten Absprechen jeder kulturellen Identität durch eine überforderte SPD-Funktionärin ( Aydan Özogus).

 

 

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