Yann Martell: Schiffbruch mit Tiger

„Denn darum geht es doch in Romanen, nicht wahr? Darum, die Wirklichkeit exemplarisch umzuformen, und zwar so, dass die Wahrheit ans Licht kommt,“ heißt es auf Seite 8 des vorliegenden Buches. Wie Yann Martell dieses so einleuchtende aber unendlich schwer umzusetzende Programm verwirklicht, ist, gelinde gesagt, ein Meisterwurf.  Erzählt wird die erstaunliche Geschichte des kleinen  Pi  (daher der Titel der englischen Originalausgabe „Life of Pi“, die im Jahre 2002 den Booker Price gewann), der als Sohn eines Zoodirektors im indischen  Pondicherry aufwächst. Die Miniaturwelt der ehemaligen französischen Enklave Pondicherry an der Koromandelküste dreht sich dabei als  Schaubplatz der Bildungsgeschichte des kleinen Pi auf so eigentümliche Weise um Götter und Tiere,  dass man sich lange vor dem „Schiffbruch mit Tiger“ fragt, wie diese beiden Phänomene wohl zusammenfinden sollen.   Zunächst aber  erfährt der Leser aus der Perspektive eines indischen Landzoos  jede Menge Interessantes, Kurioses. Wissenswertes  aus dem Alltag unserer Mitgeschöpfe.   Was es dabei über die „Waffen der Tiere“, den „Konservativismus der Tiere“, das Schicksal ausgesetzter Tiere, das Dreifingerfaultier,  die Dorade und vieles andere zu lesen gibt, macht die Erzählung gleichsam nebenbei auch zu einem ganz ausgezeichneten Tierbuch.

So weit und schon so gut.  Im zweiten Teil gewinnt die bis dahin eher beschauliche Geschichte eine unerwartete und unerhörte Dramatik. Das Schiff, auf dem Pi´s Familie mitsamt den Tieren nach Kanada auswandern will, sinkt auf der Überfahrt und der kleine Pi findet sich plötzlich mit einer Hyäne, einem Zebra einer Ratte, einem Organ Utan und dem bengalischen Königstiger „Richard Parker“ ganz alleine auf in einem Rettungsboot.   Zuerst liegt der Tiger seekrank und unbemerkt unter der Plane, und die Hyäne macht sich in grauenhaft Weise über das wehrlose Zebra her, auch das tapfere Orang Utan Weibchen wird von der Hyäne zerfleischt, doch dann taucht der Richard Parker  auf, und alles wird anders. Zuerst muss die Ratte daran glauben, dann wird die Hyäne zerfetzt, wie aber überlebt der kleine Pi?  Das ist der Gegenstand des spannendsten Buchteiles, dessen Einzelheiten hier nicht verraten werden sollen. Nur so viel: in einer Kombination aus klassischer Konditionierung, Findigkeit und Gottvertrauen, mit erstaunlichen Fähigkeiten im Beibootobau und der Absage an jede Art von vegetarischer Ernährung schippern Pi und der Tiger Richard Parker nicht weniger 227 Tage über den pazifischen Ozean ehe sich ihre Geschicke an der Küste Mexikos trennen. Schon allen dieser Plot  ist ein Kracher, und sorgt dafür, dass kaum jemand dieses Buch ohne Not aus der Hand legen wird, ehe er nicht erfahren hat, wie die Geschichte ausgeht.

Aber das ist noch nicht alles.  Die Untersuchungen der Versichungsgesellschaften über den Schiffsuntergang  fördern plötzlich eine  Alternativgeschichte zutage, die die Bedeutung des Romans völlig verändert und ihn endgültig in die literarische Oberliga erhebt. Wie das geschieht, soll hier nicht dargestellt werden, denn selbst dahinter zu kommen und sich seine eigene Deutung zu erarbeiten, ist nicht nur ein literarischer Genuss sondern ist ein philosophisches Erlebnis. „Es sind nicht die Atheisten, die ich nicht leiden kann, sondern die Agnostiker,“heißt es dazu auf S. 47 des Buches. „Eine Zeitlang ist der Zweifel ein nützliches Mittel. Jeder von uns muss durch den Garten Getsemaneh.“ Auch wenn sich das vielleicht ein wenig pathetisch anhört: das vorliegende Buch ist mit seiner wunderbaren Parabel und seiner überraschenden Pointierung  dazu geeignet,  die Zweifel, der uns alle plagt, zu lindern und zu einer  echten religiösen Einsicht zu führen. Sechs Punkte, wenn es möglich wäre.

 

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