Zander: Dinge, die wir heute sagten

Der Schauplatz des vorliegenden Romans ist der Ort Breskow in Mecklenburg Vorpommern, „das Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört. Ein hässliches Endlein der Welt, über das man besser den Mund hält“.

Ob ein solcher Einstieg wirklich Lust auf die Lektüre macht will ich mal dahingestellt sein lassen. Die Bewohner von Breskow sind jedenfalls alles andere als maulfaul, sie „halten nicht den Mund“ sondern erzählen vielmündig, genau gesagt: neunmündig von ihrem rustikalen Nirwana und den Menschen, die darin leben.  In über fünfzig Kapiteln entfalten insgesamt neun Handlungsträger mehrfach ihre je andere Sicht der Dinge, so dass das Buch als Ganzes einem Art Stafettenlauf mit neun Fackelträgern gleicht, die an ganz unterschiedlichen Stellen der Geschichte ihr Licht zur Geltung bringen. Achtmal kommt die altkluge Romy zu Wort, ihre Freundin Ella darf fünfmal erzählen, ebenso oft wie Ingrid und Sonja, die Großmutter Maria Wachlowski darf viermal ihre Sicht der Dinge (im niederdütschen Platt) abschnacken, genauso oft wie ihr Sohn Hartmut, der zugleich der Vater von Ella ist. Der schwachsinnige Henry (der Sohn von Ingrid) ist mit vier Wortmeldungen vertreten, und auch der Eckensteher „Ecki“ und Pastor Wiedmann lassen sich insgesamt je dreimal vernehmen. Übrigens meldet sich auch die „Gemeinde“ mit ihrem Unken und Meinen fünfmal zu Wort, ganz zu schweigen von den unzähligen Beatles Zitaten, die zwischen den Kapiteln und in die Erzählung eingestreut werden.

Man sieht, man hat einen ambitionierten Roman vor sich, was nichts anderes bedeutet, als dass man sich Papier und Bleistift besorgen muss um alle Verwandtschafts- und Beziehungsverhältnisse erst einmal in einer Skizze festzuhalten.   Da ist zunächst die Generation der Großmütter Anna Hanske und Maria Wachloswski, die dereinst so unzertrennlich waren, dass sie nur als „Annamaria“ angesprochen wurden. Das Personal der zweiten Generation, der Elterngeneration besteht aus Friedhelm und Sonja, Hartmut und Britta, dem guten Peter, der rätselhaften Ingrid. Die nach Breskow zugezogene Romy ( die Tochter von Friedhelm und Sonja ), die zornige Ella ( die Tochter von Hartmut und Britta und die Enkelin von Maria Wachslowski) und der schöne Paul aus Irland ( der Sohn von Ingrid und Michael) bilden die dritte Generation, zu der man noch den derben Ecki und den debilen Henry hinzuzählen muss, den unehelichen Sohn von Ingrid und des „schönen Roli“. Alles klar?

Auf jeden Fall hat man zunächst als Leser derart viel mit der Aufdröselung dieser  Beziehungsverhältnisse zu tun, dass man den roten Faden der Handlung leicht aus den Augen verliert. Dieser „rote Faden“ soll hier natürlich nicht entwickelt werden, das muss jeder Leser schon für sich selbst besorgen. Nur so viel: besonders viel geschieht nicht, stattdessen lebt das  Buch von Gesprächen und Retrospektiven, die ein blutvoll anschauliches und farbenfrohes  Bild der Dorfgemeinschaft ergeben. Es wird sehr viel palavert, getrunken und gevögelt, ehe am Ende der schöne Paul von Ella und Romy erfährt, dass er einen schwachsinnigen Bruder in der Anstalt hat. Paul besucht Henry, ohne das dabei viel herauskommt, dann verschwindet er wieder mit seiner Mutter und seinem Vater, nicht ohne vorher Ella und Romy durch einen scheuen Abschiedskuss verzaubert zu haben.

Dann ist der Roman zuende, und der Leser bleibt ein wenig ratlos zurück. Nun hat er sich mit solcher Mühe in die Besetzungsliste der Breskower Gesellschaft eingearbeitet und fragt sich doch am Ende, was er eigentlich gelesen hat. Es war kein typischer Familienroman, wenngleich die Hanskes und Wachloswskis über drei Generationen immer wieder in den Fokus der Darstellung geraten. Es war auch kein Buch über die ostdeutsche Provinz, obwohl es ein Psychogramm jener Mentalitäten enthält , aus der deutsche Besonderheiten speisen (Grübelei, Eigensinn,  Trunksucht, Beharrlichkeit). Zeitweise könnte man glauben, es handelte sich um einen Roman über Eltern-Kind-Beziehungen ( Anna und Ingrid, Sonja und Romy, Maria und Hartmut, Hartmut und Ella) oder vielleicht sogar um einen Entwicklungsroman mit dem Schwerpunkt auf Romy und Ella.

Es kennzeichnet den Rang aber auch die Problematik des Werkes, dass es von alle diesen Aspekten Elemente in sich trägt, ohne ganz darin aufzugehen.  Auch wenn die Gemeinde Breksow insgesamt fünfmal wie eine Karikatur des Chors in der griechischen Tragödie als Stimmgeber auftritt, besitzt sie keine erkennbare Identität – mit anderen Worten: der Ort Beswkow hat ebenso wenig ein Zentrum wie der vorliegende Roman.

Wie ist es trotzdem möglich, den Leser über 480 Seiten bei der Stange zu halten? Die Antwort und die Stärke des Werkes liegt meiner Ansicht nach in seiner formalen Gestaltung. Bereitet die vielstimmige und gut durchmischte Erzähltechnik auch an Anfang Probleme, fühlt sich der Leser bald inmitten des Soli-Orchestrs von Breskow merkwürdig heimisch. Man erkennt Pastor Weidmann oder Ecki, Romy oder Maria an ihren sprachlichen Eigenheiten, man empfindet ihre über die sprachlichen Individualitäten erschlossene Identität und kann  jeden auf seine Art verstehen.  Manchmal wird man sogar des literarisch ungemein reizvollen Gefühls teilhaftig, inmitten dieses Stimmengewirrs mehr zu wissen als die Erzähler ( so etwa bei Hartmut, der seine herbe Tochter Ella kritisiert und seinen braven Sohn Thorsten rühmt, ohne zu wissen, dass dieser ein Kuckucksei ist, das ihm seine flotte Frau Britta ins Ehebett gelegt hat ).

Inmitten einer so bravourös gelungenen formalen Romankomposition bleiben am Ende natürlich auch Fragen offen.  Unbefriedigend gelungen finde ich die Figur Peters, der im ersten Teil des Werkes stark aufgebaut wird, um dann im zweiten Buchteil sang- und klanglos zu verschwinden. Was sollen die allgegenwärtigen Beatles-Zitate dem Leser zeigen, außer dem Umstand das Romy alias Judith eine hemmungslose  Beatles-Beigeisterung pflegt? Das sind natürlich nur Kleinigkeiten, bedeutsamer finde ich die Kritik, dass die anspruchsvolle formale Konstruktion nicht durch ein ebenso überzeugenden inhaltliches Finale beglaubigt und bestätigt wird. Hier weckt der Roman mit seiner ausgefeilten Technik jedenfalls Erwartungen, die er am Ende inhaltlich nicht erfüllt. Oder nicht erfüllen will? Weil ja in der Provinz ohnehin nicht Neues geschieht?

Wie dem auch sei, ich habe dieses Buch nach einigen Startproblemen mit wachsender Freude gelesen und mich von seinen literarischen und sprachlichen Feinheiten gut unterhalten lassen. Als Debütroman ist dieses Werk zweifelsohne eine Wucht.

 

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