Celine: Reise an das Ende der Nacht

Celine Reise an das Ende der NchtSeit langem lagert dieses Buch in meiner Bibliothek, es gehört sicher zu denjenigen, die man einfach „hat“, auch wenn man sich nicht so recht traut, sie zu lesen. Nach einem enthusiastischen Artikel in der Zeitschrift „Literaturen“, in der das Buch mit Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verglichen wurde, nach einem entspannenden Wochenende, in dem ich frische Kräfte getankt hatte, wagte ich mich dann endlich an dieses Werk.
Erster Eindruck: Den Sturm der Entrüstung, den das Buch bei seinem Erscheinen auslöste, kann man heute nicht mehr recht nachvollziehen – dass es sich allerdings aber um ein Meisterwerk handelt, wird schon nach wenigen Seiten klar, mehr noch: es ist ein Meisterwerk, dass sich eingängig und packend liest ohne deswegen seicht zu sein.
Zweiter Eindruck: Dieses Buch lebt von seiner unverwechselbaren Sprache, einem weit gespannten Klang, der vom Straßenjargon („Die Möse ist die Goldmine der Armen“ S.249) über treffsichere Dialoge bis zu einer kristallinen Poesie reicht. Celine nutzt mehr als alle anderen Autoren vor ihm die ganze Klaviatur der menschlichen Sprache um die Geschichte seines Protagonisten Ferdinand Bardamu zu beschreiben. Allein das macht die Lektüre zu einem literarischen Erlebnis.
Aber was ist die Geschichte? Der Roman setzt ein mit den Erlebnissen des französischen Unteroffiziers Ferdinand Bardamu im Ersten Weltkrieg, einem wahren Kaltstart, die dem Leser die kreatürlicher Not von Mensch und Tier in den Materialschlachten des Grabenkrieges schockartig nahe bringt. Keinerlei heroische Pose, keinerlei Sinn relativiert das namenlose Elend, dem Bardamu und seine Leidensgenossen ausgesetzt sind. Zorn und Hass gelten nicht den Deutschen auf der anderen Seite, sondern den Offizieren aller Ränge, die ihren Privatkrieg gegen ihre eigenen Leute führen, die füsilieren, wo sie nur können und immer Mittel und Wege finden, es sich gut gehen zu lassen.
Dann verschlägt es Bardamu aus nicht näher erklärten Gründen in eine französische Kolonie nach Afrika, in eine mörderische Tropenwelt, über die ich noch niemals so ergreifende Sentenzen gelesen habe wie in dem vorliegenden Buch. „Menschen, Tage und Dinge, alles schwand so rasch in diesem grün, diesem Klima, dieser Hitze und bei den Mücken, dass man kaum schnell genug hinsehen konnte. Es war widerwärtig, alles ging dahin, Stück für Stück, Satz für Satz, Glied um Glied, Sehnsucht um Sehnsucht, Blutkörperchen für Blutkörperchen, es verging in der Sonne, schmolz im Sturzbach des Lichts und der Farben, und der Geschmack und die Zeit gleich mit, alles ging dahin. Nur funkelnde Angst blieb in der Luft.“(S. 196f.)
Bei dem Versuch, Afrika zu verlassen, verschlägt es Bardamu als Galeeerensklaven auf ein portugiesisches Schiff, mit dem er den Atlantik überquert, um schließlich in New York anzulegen. Hier lernt er die Neue Welt kennen, eine deprimierendes Universum der Hast und der Heuchelei, in der sich Gier und Niedertracht womöglich noch ungehemmter austoben als in Europa. Bardamu versucht sich als Flohzähler in Ellis Island, macht Bekanntschaft mit der Fließbandproduktion bei Ford, mit Figuren aus der Unterwelt und einfachen Menschen in Straßenbahnen, Freudenhäusern und öffentlichen Toiletten, doch was immer er anstellt, er bleibt arm wie eine Kirchenmaus, ist aber gleichzeitig vom vermeintlichen Glanz des Reichtums geradezu besessen. Alles ekelt ihn an, so dass er sich am liebsten in seinem hässlichen Hotelzimmer verkriecht.
Gegen Mitte des Buche finden wir ihn plötzlich wieder in Frankreich. Der Krieg ist zuende, er studiert und lässt sich als Armenarzt im Pariser Problemviertel Rancy nieder, wo er jene Ärmsten der Armen behandelt, die aber keine Arztrechnungen bezahlen können, so dass er bald selbst am Rande des Hungertodes dahinvegetiert. So sehr er auch über die Unbarmherzigkeit der Reichen flucht, Tür an Tür mit dem Bodensatz der Gesellschaft lebt es sich auch nicht besser, auch hier wird gelogen und gemordet, betrogen und gestohlen, was das Zeug hält.
Schließlich verlässt Bardamu Paris-Rancy und findet als Arzt eine Anstellung in einem Irrenhaus, wo sich sein Leben ein wenig glättet. Der Lebensekel hält allerdings an, auch die Irren sind keinen Deut besser als die Normalen, mehr noch: in ihnen scheint das Monströse viel deutlicher hervorzutreten als in den sogenannten Normalen, die den Grossteil ihrer Kraft (langfristig natürlich vergeblich ) aufwenden müssen, um ihr Widerwärtigkeit vor der Blicken der Außenwelt zu verbergen.
So bilden Krieg, Tropen, Amerika, Armenarzt und Irrenhaus die Stationen auf Bardamus langer Reise durch die Nacht, bei der er es mit diversen Frauen und Figuren zu tun bekommt, deren Schicksale aber nur die Funktion besitzen, die Weltabscheu der Hauptperson noch etwas plausibler zu machen. Nach 658 Seiten ist die Reise durch die Nacht schließlich zuende, ohne dass klar würde, wie es mit Bardamu weiter geht. Allerdings kann man sich nach dem gesamten Ablauf des Romans ziemlich sicher sein, dass sich auch in neuen Lebenssituationen an dem durchsäuerten Lebensekel der Hauptperson nur sehr wenig ändern wird.
Was habe ich von der Lektüre gehabt? Zunächst: Eine so anhaltende intensive und negative Welt- und Menschenbeschimpfung habe ich noch nie gelesen. Dieser Roman ist eine einzige Suada des Hasses, getrieben von einer kaum überbietbaren Verachtung für alles und jeden und generiert aus der Seele einer verzweifelten Existenz. Eine solche Breitseite des Ekels literarisch auf höchstem Niveau gegen die ganze Welt abzufeuern will gekonnt sein.
Aber ist dieser Roman auch „wahr“? Auch wenn sich diese Frage am Ende eines modernen Romans altbacken anhört – dieses Buch ist ein Hilfeschrei, aber keine exemplarische Beschreibung der Welt. Es ist auf eine ätzende Weise einseitig, weil alles, was das Leben freundlich und lebenswert macht, in dem Buch gänzlich fehlt. Auf der Reise durch die Nacht, die nichts weiter als die Lebensreise ist, gibt es keine Hoffnung, kein Glück, keine Freude, keine Therapie, nur den Wunsch, dass das sinnlose Leben schnell und schmerzlos wie möglich zuende gehen möge. Da das aber schon nach der Hälfte des Romans relativ klar ist und da sich danach psychologisch rein gar nichts mehr ändert, wird das Geschimpfe auf allerhöchstem Niveau am Ende sogar ein wenig fad. So bietet das Buch alles in allem ein beeindruckendes Leseerlebnis – am ehesten geeignet für Leute mit Durchhaltevermögen und guten Nerven, die sich bei aller Bewunderung der literarischen Leistung am Ende freuen werden, dass sie in einer ganz anderen Welt leben dürfen.

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