Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Bd. I: In Swanns Welt

 

1 (265)Um dieses Werk zu lesen, muss man Zeit mitbringen, und zwar gleich im doppelten Sinne. Man muss bereits viel Zeit mit Büchern verbracht haben, um dieses Buch der Bücher überhaupt mit Aussicht auf Erfolg anzugehen. Sodann benötigt man Zeit, sehr, sehr viel Zeit, um die viereinhalbtausend Seiten des Buches zu lesen. Diesen Roman  in einem einzigen Rutsch zu lesen, ist unmöglich. Es käme mir vor, als wolle man ein ganzes Fass guten Weines in einem eiznigen Zug leer trinken. Wie bei einem Wein, der auch in der Portionierung eines Glases oder einer Flasche  am bekömmlichsten ist, empfiehlt es sich auch dieses Buch über viele Etappen hinweg zu lesen.

Ich habe damit (abgesehen von „Eine Liebe von Swann“, das ich bereits im Herbst 2005 als abgeschlossenes Buch gelesen hatte ) während eines längeren Frankreichaufenthaltes begonnen, habe jeden Morgen ein oder zwei Stunden darin gelesen und dabei mit Freude gemerkt, wie gut mir diese morgendliche Übung tat. Wann ich dieses Werk zuende gelesen haben werde, kann ich genau so wenig absehen, wie mein weiteres Leben.

Im Mittelteil des ersten Buches ( „Eine Liebe von Swann ) ab, so ist das erste Buch in einer Weise verfasst, die ich schon aus anderen Büchern kannte schätzte und von der ich jetzt erst realisierte, dass es die Proust´sche Perspektive ist: aus der emotionalen, magischen und ein wenig  verzauberten  Perspektive eines heranwachsenden Knaben wird die innere und äußere Welt dieses Kindes dem Leser mit den schier unbegrenzten Mitteln einer universalen  sprachlichen Meisterschaft vor Augen geführt, die einem ganz anderen Lebensalter entstammt. Dieses Nebeneinander von magischer Empfindung und analytischer Poesie war für mich die erste frappierende literarische Erfahrung dieses Buches.

Mit diesen Mitteln und vor allem auf diesem Niveau kann alles beschrieben werden. Wie Miro oder Picasso alles malen können und es immer genial ist so kann Proust über alles auf eine Weise schreiben, die den Leser fesselt. So beginnt das Buch mit den Ängsten des kleinen Protagonisten um einen möglicherweise ausfallenden Gutenachtkuss der geliebten Mutter, es setzt sich fort mit einer liebevoll inspirierten Schilderung des Dorfes Combray und seiner Bewohner, des eitlen Herrn Legrandin, des kauzigen Vitrieul und seiner exotischen Tochter, vor allem aber der Familie, der gutmütigen Großmutter, dem herben Großvater, den Eltern, der Tante Leonie und der Dienerin Francois, deren psychologische Physiognomien aus der Perspektive des kleinen Protagonisten auf das Wunderbarste ausgeleuchtet werden. Situationsschilderungen und Handlungsabläufe werden immer wieder durch essayistische Betrachtungen unterbrochen, bei denen der Erzähler die Perspektive des kleinen Jungen verlässt, um aus der Universalität seines gealterten Lebens umfassendere Betrachtungen anzustellen. Ich gestehe, dass ich diese Passagen, so interessant sie auch waren (vgl. etwa die Abhandlungen über die Namen S. 507-520), oft nur quer gelesen habe, weil ich nach der eigentlichen Erzählung lechzte, denn diese bereiteten mir ein außerordentliches Vergnügen. Ich lachte und staunte, und mir war, als entdeckte ich immer neue literarische Köstlichkeiten (etwa die Beschreibung und Deutung eines Bücklings auf S.167, die Analytik der Liebe und ihrer Verfallsformen im zweiten Buch und vieles, vieles mehr ), was ich unterstrich und auf den Innenseiten des Buches mit Fundstelle vermerkte.

Dabei umkreist die Erzählung immer wieder die Gestalt des geheimnisvollen Verwandten Swann, jenes Onkels, der in Paris zwar in den obersten Kreisen verkehrt, in der Familie des Erzählers aber wegen einer unziemlichen Heirat mit der Kokotte Odette de Crecy geschnitten wird. (Die Entstehungsgeschichte dieser Ehe ist der Gegenstand des zweiten Buches „Eine Liebe von Swann“ – vgl. dazu die Exzerpte aus dem herbst 2005). Kein Wunder, dass sich Swanns Welt immer dominanter der Phantasie des Knaben bemächtigt – vor allem als er im dritten Teil des ersten Buches („Ortsnamen. Namen überhaupt“) die Bekanntschaft der kleinen Gilbert Swann, der Tochter des ungleichen Ehepaares macht und sich unschuldig-unglücklich in sie verliebt.

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