Tsiolkas: Nur eine Ohrfeige

60Ein dreijähriges Kind verhält sich auf einer Gartenparty unverschämt und erhält von einem Erwachsenen eine Ohrfeige, nicht zu hart, aber auch nicht nur einen Klapps, sondern in Härte und Zielgenauigkeit eine klassische Backpfeile als deutlichen Hinweis dafür, dass hier Schluss mit lustig ist. Daraufhin bricht innerhalb der Partygesellschaft der Teufel aus.  Bekanntschaften werden abgebrochen, Freundschaften zerbrechen, Familienbande werden strapaziert, weil man sich über die Beurteilung dieser Ohrfeige uneins ist. Natürlich handelt es sich in dem vorliegenden Roman nicht nur um eine Ohrfeige, sondern anhand dieser Ohrfeige und der Konflikte, die sie hervorruft, wird nicht mehr und nicht weniger als ein klassischer Gesellschaftsroman entwickelt, in dem Klartext geredet wird. Denn Tsiolkas Thema ist der umfassende soziale Niedergang in allen Bereichen der Gesellschaft: Ehebruch, Abtreibung, promiskuitiver Sex, „Mitleidsfick“, Drogensucht, Vandalismus und Egoismus prägen das öffentliche Verhalten, während die Familienbande immer weiter zusammenbrechen.

Erzählt wird das Buch in acht Kapiteln aus acht unterschiedlichen Perspektiven, zuerst von Hector, einem gut aussehenden griechischstämmigen Ehemann der Tierärztin Aisha,  auf dessen Gartenparty sich der Ohrfeigenzwischenfall ereignet, dann von der Drehbuchschreiberin Anouk, die mit einem Mann zusammen ist,  der halb so alt ist wie sie und dessen Kind sie abtreiben lässt. Harry, Hectors griechisch stämmiger Cousin ist ein rabenschwarzer, jähzorniger aber erfolgreicher Charakter, der in Melbourne zwei Autowerkstätten betreibt, sich eine Geliebte hält, aber nichts auf seine Familie kommen lässt. Er hat dem kleinen Hugo die Ohrfeige verpasst, was ihm Leid tut, aber nur, weil er sich vor den juristischen Folgen fürchtet.

Hugos Mutter Rosie erscheint als  die Zentralgestalt des Buches,  in der sich die gesamte Zeitkritik bündelt. Nach einer Jugend als promiskuitives Flittchen in Perth lernt sie in Melbourne ihren Ehemann  Gary kennen, einen Alkoholiker und Trinker, dessen pseudolinkes Ressentiment gegen alle Arrivierten  Rosie fasziniert. Innerhalb  jammervoller familiärer und finanzieller Verhältnissen kommt Hugo zur Welt, in dessen grenzenloser Bemutterung Rosie die Rettung ihrer gefährdeten Persönlichkeit findet. So ballt sich all ihr Hass gegen Harry, der in einer richterlichen Anhörung frei gesprochen wird und gegen ihre ehemalige Freundin Aisha, die sich in dem Konflikt letztlich für die griechische Familie entscheidet.

Der Roman entfaltet einen Sog, wie ich es in den letzten Jahren selten erlebt habe. Von der ersten bis zur letzten Seite gelingt es dem Autor, seinen Leser mitten in die Handlung hineinzuziehen. Die Sprache, mit der dies gelingt, ist klar und treffend, sie ist das ideale Medium, das kaum bemerkt wird, aber trägt. Die Dialoge sind meisterhaft komponiert, allen Personen, sogar Gary, Rosie und Hugo, wird Fairness entgegen gebracht,  aber die Kernaussagen sind doch relativ klar: Der allgemeine Wertverfall führt zur Verantwortungslosigkeit der Eltern ihren Kindern gegenüber.  Aus der Verantwortungslosigkeit der Eltern erwächst die Haltlosigkeit die Respektlosigkeit der nachwachsenden Generation. Sogar einen unguten Bekannten trifft man bei der Lektüre wieder:  aus dem Ressentiment beladenen weißen Unterschichtsangehörigen, der in den Romanen von William Faulkner gegen tüchtigere Schwarze auf nichts weiter als auf seine Rasse stolz sein kann, ist Gary geworden, der minderbegabte und heruntergekommene Pseudointellektuelle, der gegen Erfolgreiche nichts anderes als sein besseres Bewusstsein und seine linke Moral ins Spiel bringen kann.

 

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