Williams: Stoner

64„William Stoner begann 1910, im Alter von 19 Jahren, an der Universität von Missouri zu studieren. Acht Jahre später, am Ende des Ersten Weltkrieges, machte er seinen Doktor der Philosophie und übernahm einen Lehrauftrag an jenem Institut, an dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1956 unterrichten sollte.“
Diese ersten beiden ersten Sätze des vorliegenden Buches umreißen ziemlich genau den Rahmen des Romans. Es handelt sich um die Geschichte eines introvertierten Farmersohnes, den seine hart arbeitenden Eltern unter schweren Opfern zum Studium der Agrarwissenschaften auf die Universität schicken. Dort wechselt der junge William nach der Bekanntschaft mit Literatur und Lyrik sein Fach, studiert Englisch und absolviert an seiner Mutteruniversität eine bescheidene Karriere als Lehrbeauftragter und Professor am Fachbereich Englisch. Er heiratet Edith, seine erste Liebe, eine halb autistische, lebensuntüchtige Frau, bekommt eine Tochter, veröffentlicht ein „solides“ Buch und finanziert mit Hilfe eines Schwiegerelternkredits ein Eigenheim. Die Jahre vergehen, die große Depression führt zum Selbstmord des Schwiegervaters, die vom Vater innig geliebte und tadellos versorgte Tochter Grace wächst heran, neue Professoren kommen an die Universität, unter ihnen der verkrüppelte und exzentrische Hollis N. Lomax.

Auch William und Edith verändern sich. William empfindet immer mehr Freude an der pädagogischen Dimension seines Berufes und beginnt mit der Arbeit an einem zweiten Buch, seine Frau beginnt sich zu schminken, sich auszustaffieren und Theater zu spielen – vor allem aber: ihren Mann zu piesacken, wo immer es ihr möglich ist. Wie ein bösartige Megäre entfremdet sie die Tochter dem Vater und malträtiert sie derart, dass das Kind verhaltensauffällig wird. Eines Tages wirft sie die Bücher ihres Mannes aus seinem Arbeitszimmer, um sich ein Mal- und Bildhauerzimmer einzurichten, obwohl sie dafür überhaupt kein Talent besitzt. Mitten in dieser Phase des Wandels kommt es zum Konflikt Stoners mit dem Hollis N. Lomax, der einen faulen und unbegabten Studenten protegiert, den Stoner in der Examensprüfung durchfallen lässt. Kurz darauf beginnt Stoner, von der Eiseskälte seiner lieblosen Ehefrau seelisch ausgedörrt, eine Romanze mit einer jungen und begabten Doktorandin, die sich zur großen Liebe seines Lebens auswächst. Doch diese Liebe scheitert – sie wird durch den sardonischen Hollis N. Lomax, der inzwischen Englisch-Fachbereichsleiter geworden ist, gnadenlos zerstört.
Damit ist für Stoner der Zenit seines Lebens überschritten, und eine lange Agonie beginnt. Wie eine Personifikation der elterlichen Malaise entwickelt sich die Tochter Grace zu einer wankelmütigen jungen Frau, wird schwanger, heiratet um sich dann, nach dem Tod ihres Mannes, im Zweiten Weltkrieg zur Alkoholikerin zu entwickeln. Kurz vor seiner Emeritierung verstirbt William Stoner an Krebs.
Man sieht, alles in allem keine außergewöhnliche Geschichte, aber eine außergewöhnlich gut erzählte Geschichte. Selten habe ich bei einem Buch erlebt, dass die Hauptperson dem Leser so nahe rückt, dass man mit ihr fühlt, sie versteht (oder auch nicht versteht) und mit ihr leidet. Woran liegt das? Das gradlinige, ehrliche, authentische und vollkommen aggressionsfreie Leben, das William Stoner lebt, wirkt deswegen so ungemein ansprechend, weil es sich im Kern um eine Utopie handelt, um die Utopie des anständigen Menschen, dem gerade, weil er immer das kürzere Ende zieht, die volle Sympathie des Lesers gehört. Und sein Mitgefühl, denn die Stationen des einfachen Lebens, das Stoner lebt, sind die Stationen von Jedermann. Und die Fragen, die sich Stoner stellt, sind die Fragen, denen sich letztendlich niemand entziehen kann. Unmittelbar vor dem Scheitelpunkt seines Lebens, der durch seinen Konflikt mit Lomax und der Romanze mit der jungen Doktorandin gekennzeichnet war, hatte er „jene Phase seines Lebens erreicht, in dem sich ihm wachsender Dringlichkeit eine Frage von solch überwältigender Einfachheit stellte, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er begann sich nämlich zu fragen, ob sein Leben lebenswert sei, ob es das je gewesen war.“(S. 227). Nach dem Ende dieser Kämpfe und im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden Todes resümierte er, dass sein Leben „gescheitert“ ist, denn alles, was er angestrebt hatte – ein außergewöhnliches Lehramt, eine glückliche Tochter, ein großes Buch, eine wahre Liebe, eine gelungene Ehe, war ihm versagt geblieben. Seine humanistische Bildung hatte ihn aus dem Nest der Tradition emporgehoben und zu einem Individuum im Zeitalter des Individualismus gemacht – ohne dass er die mit dem Individualismus einhergehenden Sehnsüchte und Ziele hatte erreichen können. Am Ende bleibt Stoner nichts als das Bewusstsein seiner eigenen Identität, die er unter Opfern und mit Mühe und Würde bewahrt hatte – und die nun mit ihm spurlos aus der Welt verschwinden würde.
Ein auf altertümliche Weise erhebendes Buch, das auf keiner Seite langweilig ist. Die Sprache ein Genuss. Das Fazit und die Intention des Buches ein Anstoß zur Mündigkeit.

 

 

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„William Stoner begann 1910, im Alter von 19 Jahren, an der Universität von Missouri zu studieren. Acht Jahre später, am Ende des Ersten Weltkrieges, machte er seinen Doktor der Philosophie und übernahm einen Lehrauftrag an jenem Institut, an dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1956 unterrichten sollte.“
Diese ersten beiden ersten Sätze des vorliegenden Buches umreißen ziemlich genau den Rahmen des Romans. Es handelt sich um die Geschichte eines introvertierten Farmersohnes, den seine hart arbeitenden Eltern unter schweren Opfern zum Studium der Agrarwissenschaften auf die Universität schicken. Dort wechselt der junge William nach der Bekanntschaft mit Literatur und Lyrik sein Fach, studiert Englisch und absolviert an seiner Mutteruniversität eine bescheidene Karriere als Lehrbeauftragter und Professor am Fachbereich Englisch. Er heiratet Edith, seine erste Liebe, eine halb autistische, lebensuntüchtige Frau, bekommt eine Tochter, veröffentlicht ein „solides“ Buch und finanziert mit Hilfe eines Schwiegerelternkredits ein Eigenheim. Die Jahre vergehen, die große Depression führt zum Selbstmord des Schwiegervaters, die vom Vater innig geliebte und tadellos versorgte Tochter Grace wächst heran, neue Professoren kommen an die Universität, unter ihnen der verkrüppelte und exzentrische Hollis N. Lomax.

Auch William und Edith verändern sich. William empfindet immer mehr Freude an der pädagogischen Dimension seines Berufes und beginnt mit der Arbeit an einem zweiten Buch, seine Frau beginnt sich zu schminken, sich auszustaffieren und Theater zu spielen – vor allem aber: ihren Mann zu piesacken, wo immer es ihr möglich ist. Wie ein bösartige Megäre entfremdet sie die Tochter dem Vater und malträtiert sie derart, dass das Kind verhaltensauffällig wird. Eines Tages wirft sie die Bücher ihres Mannes aus seinem Arbeitszimmer, um sich ein Mal- und Bildhauerzimmer einzurichten, obwohl sie dafür überhaupt kein Talent besitzt. Mitten in dieser Phase des Wandels kommt es zum Konflikt Stoners mit dem Hollis N. Lomax, der einen faulen und unbegabten Studenten protegiert, den Stoner in der Examensprüfung durchfallen lässt. Kurz darauf beginnt Stoner, von der Eiseskälte seiner lieblosen Ehefrau seelisch ausgedörrt, eine Romanze mit einer jungen und begabten Doktorandin, die sich zur großen Liebe seines Lebens auswächst. Doch diese Liebe scheitert – sie wird durch den sardonischen Hollis N. Lomax, der inzwischen Englisch-Fachbereichsleiter geworden ist, gnadenlos zerstört.
Damit ist für Stoner der Zenit seines Lebens überschritten, und eine lange Agonie beginnt. Wie eine Personifikation der elterlichen Malaise entwickelt sich die Tochter Grace zu einer wankelmütigen jungen Frau, wird schwanger, heiratet um sich dann, nach dem Tod ihres Mannes, im Zweiten Weltkrieg zur Alkoholikerin zu entwickeln. Kurz vor seiner Emeritierung verstirbt William Stoner an Krebs.
Man sieht, alles in allem keine außergewöhnliche Geschichte, aber eine außergewöhnlich gut erzählte Geschichte. Selten habe ich bei einem Buch erlebt, dass die Hauptperson dem Leser so nahe rückt, dass man mit ihr fühlt, sie versteht (oder auch nicht versteht) und mit ihr leidet. Woran liegt das? Das gradlinige, ehrliche, authentische und vollkommen aggressionsfreie Leben, das William Stoner lebt, wirkt deswegen so ungemein ansprechend, weil es sich im Kern um eine Utopie handelt, um die Utopie des anständigen Menschen, dem gerade, weil er immer das kürzere Ende zieht, die volle Sympathie des Lesers gehört. Und sein Mitgefühl, denn die Stationen des einfachen Lebens, das Stoner lebt, sind die Stationen von Jedermann. Und die Fragen, die sich Stoner stellt, sind die Fragen, denen sich letztendlich niemand entziehen kann. Unmittelbar vor dem Scheitelpunkt seines Lebens, der durch seinen Konflikt mit Lomax und der Romanze mit der jungen Doktorandin gekennzeichnet war, hatte er „jene Phase seines Lebens erreicht, in dem sich ihm wachsender Dringlichkeit eine Frage von solch überwältigender Einfachheit stellte, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er begann sich nämlich zu fragen, ob sein Leben lebenswert sei, ob es das je gewesen war.“(S. 227). Nach dem Ende dieser Kämpfe und im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden Todes resümierte er, dass sein Leben „gescheitert“ ist, denn alles, was er angestrebt hatte – ein außergewöhnliches Lehramt, eine glückliche Tochter, ein großes Buch, eine wahre Liebe, eine gelungene Ehe, war ihm versagt geblieben. Seine humanistische Bildung hatte ihn aus dem Nest der Tradition emporgehoben und zu einem Individuum im Zeitalter des Individualismus gemacht – ohne dass er die mit dem Individualismus einhergehenden Sehnsüchte und Ziele hatte erreichen können. Am Ende bleibt Stoner nichts als das Bewusstsein seiner eigenen Identität, die er unter Opfern und mit Mühe und Würde bewahrt hatte – und die nun mit ihm spurlos aus der Welt verschwinden würde.
Ein auf altertümliche Weise erhebendes Buch, das auf keiner Seite langweilig ist. Die Sprache ein Genuss. Das Fazit und die Intention des Buches ein Anstoß zur Mündigkeit.

 

 

 

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