Bellow: Die Abenteuer des Augie March

Bellow Augie MarchMan hat „Die Abenteuer des Augie March“ kürzlich zum besten Roman des 20. Jhdts gewählt. Ob dem Werk dieser Rang gebührt, weiß ich nicht, aber im Rahmen meiner Leseerfahrungen gehört das Buch zum besten, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. Dabei handelt es sich um keine einfache Kost, sondern um einen über 700seitigen Roman, der langsam und mit Ruhe gelesen werden will, um einen üppig ausstaffierten epischen Kosmos, in dessen Mittelpunkt der Werdegang eines jungen Amerikaners im Chicago der Zwanziger und Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts steht.

Der Name dieses jungen Amerikaners ist Augie March, seine jüdische Mutter ist halb erblindet, der Vater abgehauen und unbekannt, der Bruder von Ehrgeiz zerfressen, die Oma dünkelhaft und maniriert. Augie selbst ist ein gut aussehender, sympathischer Filou, der die Fünf auch mal gerade sein lässt – kurz: ein amerikanischer Charakter aus der Unterschicht der Vielvölkerstadt Chicago, der sich mehr schlecht als recht durch seine Kindheit und Jugend schlägt. Aber ganz gleich, ob der junge Augie von wohlhabenden Bürgern adoptiert werden soll, ob er als Gewerkschaftssekretär, Kleinkrimineller, Farbverkäufer oder Adlerbändiger arbeitet – immer tapert er wie eine zitternde Kompassnadel ohne IMG_3154Nordung durch sein Leben. Jeder Tag ein neuer Anfang, jeder Kontakt eine anderen Lebensrichtung, die sich einige Seiten später schon wieder zerschlägt, eine Stadtexistenz, deren Schicksalslauf sich nur durch Anstöße von außen entfaltet, ein moderner Oblomov, der zwar nicht auf der Couch liegt sondern durchaus aktiv ist, ohne aber zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Aktiv wird Augie immer nur, wenn er sich Förderungsabsichten, Karrieremöglichkeiten, Heiratsplänen oder den Verwertungsinteressen seines ehrgeizigen Bruders entzieht, so dass sich am Ende die Richtung seines Lebens aus der Summe der ausgeschlagenen Möglichkeiten ergibt. Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre waren gestern – der moderne Wilhelm Meisters gleicht einem Korken auf dem Wellenkamm – allerdings ausgestattet mit der Fähigkeit „nein“ zu sagen, wobei sich am Ende aus diesem modernen Entwicklungsroman die Pointe ergibt: nicht mehr die Bestimmung, die sich schrittweise entfaltet, sondern die Verweigerung beliebiger Möglichkeiten bestimmt den Rhythmus der Selbstwerdung.

IMG_3178Dass Augie March mit dieser Selbstwerdung am Ende des Romans ersichtlicherweise noch nicht fertig ist, ist deswegen nicht verwunderlich – weil er niemals fertig werden wird. Die Zickzackreise wird weiter gehen, auch wenn Augie meint, nicht nur hinsichtlich seines Berufes sondern auch in der Liebe an ein glückliches Ende gekommen zu sein. Pustekuchen, denn gerade die Liebe repräsentiert in dem vorliegenden Roman mehr als alles andere die Willkürlichkeit des modernen Geschicks – genauso wie es ein älterer Freund am Ende des Romans dem fast erwachsen gewordenen Augie gegenüber formuliert: „Eines bestimmen Tages, wenn du glücklich bist, weißt du, dass es nicht so bleiben kann, sondern dass ein ander Wetter werden wird: was Gesundheit war, wird eine Krankheit sein, das Jahr wird enden, und so wird auch das Leben enden. An einem anderen Ort, eines anderen Tages, wird eine andere Geliebte sein. Anstelle deines Gesichtes, das du küsst, wird ein anderes Gesicht treten, und auch dein Gesicht wird eines Tages ausgetauscht werden“ (S.647).

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