Götz: Johann Holtrop

  53Reinald Goetz hat sich in dem vorliegenden Roman an Pionierarbeit versucht,  denn die literarische Behandlung der Wirtschaft ist in Deutschland noch immer Mangelware. Sein Thema ist der Typ des modernen Wirtschaftsführers innerhalb der globalisierten Wirtschaft. Das klingt interessant – auch deswegen, weil jeder auch nur oberflächlich Orientierte in Johann Holtrop sofort den ehemaligen Bertelsmann- und Arcandor-Chef Thomas Middelhoff wiedererkennen wird.
Der Roman besitzt drei Teile: im ersten Teil (Orte 1998) lernen wir Johann Holtrop kennen, den Vorsitzenden der Assperg AG, einen brillanten jungen Aufsteiger, der nach einer staunenswerten Blitzkarriere an der Spitze eines weltweiten Medienkonzerns vor allem sich selbst verwirklicht. Im zweiten Teil (Taten 2002) erleben wir den Sturz des Vorstandsvorsitzenden Holtrop unter dem Druck von Wirtschaftskrise, riskanten Finanzgeschäften. Der dritte und kürzeste Teil (Tage 2010) schildert Holtrops Absturz nach seiner Entlassung bei der Asperg AG, seine Einweisung in eine Nervenheilsanstalt, seinen abermaligen Aufstieg als Chef der Lanz AG und schließlich seinen zweiten Sturz und Selbstmord.
Um eines gleich vorwegzunehmen: das Werk ist meiner Ansicht nach nur begrenzt gelungen, und doch wirkt es in seiner Gesamtheit unter den Büchern dieses Jahres wie ein Auto der unteren Mittelklasse unter lauter Schrottkarren. Goetz schreibt provokant, anschaulich und mit einer wortschöpferischen Kraft, die fast ein wenig an Wilhelm Genazino erinnert. Seine Geschichte ist gut durchkonstruiert und hält den Leser bis zum Selbstmord des Protagonisten mühelos bei der Stange – auch deswegen, weil es mit einem Furor ( Richard Kämmerlings nannte es „Hass“)geschrieben ist, der wie bei Thomas Bernhard den Leser ergreift, merkwürdig amüsiert und fesselt.
Das ist schon eine ganze Menge, doch das vorliegende Werk will noch viel mehr. Johann Hotrop“ geriert sich als ein Schlüsselroman der bundesrepublikanischen Gesellschaft und – noch ein Stufe anspruchsvoller – als die literarische Darstellung einer Gesellschaft und Wirtschaftsordnung, die sich offenbar am Rande ihres endgültigen Zusammenbruchs („im Abriss“) befindet. Wie sind diese Ansprüche eingelöst?
(1) Zur Psychologie der Haupt- und Nebenfiguren. Zuerst und vor allem: die Protagonisten des vorliegenden Romans sind durch die Bank Zyniker und Heuchler, als solche sprachlich unterhaltsam und mit großer Sprachschöpferkraft skizziert, aber doch immer nur in einer Richtung beschrieben, von der man, je länger die Lektüre währt, nicht wirklich glauben kann, dass die Personen sich darin erschöpfen. Besonders die Hauptfigur Johann Holtrop wird als Zappelphilipp und Egozentriker, als eitler Blender und letztlich als durch und durch inkompetent heruntergemacht – und das nicht nur durch die Handlung selbst, sondern erstaunlicherweise auch per direktem und ungeschütztem Kommentar. Götz kultiviert ganz bewusst eine Doppelperspektive: zuerst wird eine Aktion Holtrops dargestellt – etwa ein Millionendeal mit einem chinesischen Geschäftskonsortium – dann wird gleich anschließend angemerkt, wie bescheuert dieser Deal sei, so dass für den mündigen Leser, der doch die Konturen der Geschichte selbst erfassen und eigenständig beurteilen will, gar nichts mehr übrig bleibt als abzunicken. Man muss konstatieren, dass Goetz mit seiner Hauptfigur Holtrop ebenso verfährt wie eben dieser Holtrop mit seinen Untergebenen: er sieht nur Eitelkeit, Zynismus, Dummheit und Volltrottelei in allerhöchster Vollendung. Nie und nimmer kann deswegen die Psychologie von Johann Holtrop einen echten Realitätsgehalt besitzen: das Ausmaß an unterstellter Dummheit, Verblendung und Eitelkeit erscheint bei einem Mann mit dieser Karriere mehr als unglaubhaft – vor allem deswegen, weil dem Buch zufolge dies jedermann sofort durchschaut.
(2) Inwieweit handelt es sich um einen Schlüsselroman der bundesrepublikanischen Gesellschaft? Zunächst ist man geneigt, diese Frage zu bejahen, denn neben Johann Holtrop alias Thomas Middelhof bevölkert ein ganzer Who´s Who aus Wirtschaft und Gesellschaft die Bühne des Romans: es agieren die Firma Bertelsmann ( Assperg AG), Quelle/Karstadt/Arcandor ( Lanz) sowie die Privatbank Sal. Oppenheim (Veerendonck Bank), natürlich Reinhard Mohn (der „alte“ Assperg), Liz Mohn (die „eingedörrte“ Kate Assperg), der Kölner Finanzhai Esch (im Buch der „Finanzakrobat“ Mack), der Middelhof-Vorgänger Wössner (Brosse), Leo Kirch (Binz), der Verleger Burda ( als „stumpenhaft kleiner“ Schwaake eingeführt), seine Frau Maria Furtwängler ( Siri Reza), Josef Ackermann (Hombach), Madelaine Schickedanz (Gabriele Heinzen) und viele andere mehr. Für den Leser ergibt sich aus dieser Konstruktion eine behagliche Schlüssellochposition, aus der heraus er mit charakterlosen Schadenfreude der wüsten Herabsetzung folgen kann, die der Autor alle diesen Größen ausnahmslos zuteilwerden lässt ( möglicherweise auch ein Grund dafür, warum es dieses Buch nicht in die Auswahl zum Deutschen Buchpreis geschafft hat). Was Johann Holtrop/Thomas Middelhoff betrifft, so befremdet dass Goetz seiner Hauptfigur auch noch Elemente der Zumwinkel-Biographie und des Merck-Selbstmordes zuschlägt, sodass am Ende fast ein Weberscher Idealtypus entsteht, der mit dem realen Middelhoff nicht mehr viel zu tun hat. Merkwürdigerweise kommen dagegen die zweifelhaften Immobiliengeschäfte von Esch und Middelhoff, die sich als Stoff für das vorliegende Buch bestens geeignet hätten, überhaupt nicht vor.
(3) Schließlich und letztens fragt sich, ob der Roman über seinen unzweifelhaften Unterhaltswert hinaus auch noch vertiefte Einblicke in das Untergangsszenario der kapitalistischen Wirtschaftsordnung vermittelt. Ohne mich in der Bejahung des vorliegenden Buches irremachen zu lassen, meine ich auch hier: nein. Die abschüssige Bahn, in der sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung nach Meinung des Autors befindet, erwächst in der vorliegenden Geschichte rein aus der Psychologie. Die wirklichen konkreten Hintergründe der Krisen von 2002 und 2008 – Geldmengenvermehrung und Blasenbildung, Deregulierung, Freigabe der Derivate und Aufweichung der Bilanzstandards – kommen überhaupt nicht in den Blick. Stattdessen erscheint der Abriss der Gesellschaft“ bei Goetz als das objektive Korrelat der massenhaften Habgier vor allem der oberen Schichten, aber auch der normalen Bevölkerung. Man ist fast geneigt, zu konstatieren: mit solchen moralischen Nieten kann eine Gesellschaft nur scheitern. Niemand würde eine solche Diagnose als tragfähige Erklärung für den Untergang des Sozialismus ernst nehmen wollen, geschweige denn als Erklärung für den unterstellten Niedergang der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Wer sich wirklich für die Untiefen und Probleme der kapitalistischen Verwertungsketten im Fall Holtrop/Middelhoff interessiert, den verweise ich auf das hervorragende Buch von Hagen Seidel „Arcandors Absturz“, das spannend wie ein Krimi den Untergang von Karstadt/Quelle beschreibt.  Man wird Reinhold Goetz nicht zu nahe treten, wenn man unterstellt, dass er von den dort beschriebenen Sachverhalten (Finanzkrise, Fremdfinanzierungen, Umstrukturierungen, Kapitalerhöhungen etc) nichts versteht. Wie man trotzdem beanspruchen kann, einen Schlüsselroman über den niederbrechenden Kapitalismus zu schreiben, wird das Geheimnis des Autors bleiben.
So bleibt am Ende das Urteil über dieses Buch zwiespältig. Im Kern handelt es sich um gut gelungene Unterhaltungsliteratur, die die Vorurteile des sozialliberalen Leserpublikums bedient. Wie tief diese Vorurteile sitzen, konnte ich selbst bei der Diskussion dieses Buches innerhalb eines Lesekreises feststellen. Den Anspruch der Literatur, auf einem psychologisch und sprachlich gelungenen anspruchsvollen Niveau neue Sachbereiche der Wirklichkeit zu erschließen, löst es nicht ein.

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