Lüders: Die den Sturm ernten

Das vorliegende Buch leistet ein Doppeltes: erstens eine ausgezeichnete und nachvollziehbare Darstellung der Abläufe und Frontstellungen des Syrienkrieges.  Das ist schon mal eine ganze Menge. Mindestens ebenso interessant für den westlichen Leser aber ist der Nachweis einer gezielten politische Manipulation der Berichterstattung über den Syrienkrieg durch die westlichen Regierungen und Mainstreampresse.

Gegenüber dieser Berichterstattung vertritt der Autor eine eigene Position, bei der alle Seiten ihr Fett abbekommen. Vereinfacht kann man sie wie folgt zusammenfassen: Die Rebellen sind kein bisschen besser als Assad. Den Interventionsmächten einschließlich der USA geht es nicht  um Humanität, sondern um ihre eigenen Interessen. Unter die Räder kommen dabei die einfachen Syrer, deren Schicksal den Akteuren gleichgültig ist. Im Unterschied zum gängigen Narrativ hat es nie einen  wirklichen „Volksaufstand“ gegen Assad gegeben – ganz im Gegenteil: Assad, so brutal sein Regime auch sein mag, besaß bei den Alawiten und den konfessionellen Minderheiten immer einen stabilen Rückhalt, mit dem er die beiden Jahre des Bürgerkrieges überstehen konnte, ehe die Iraner und Russen massiv an seiner Seite eingriffen. Die Alternative zu Assad wäre ein dschihadistischer Staat mit allen Unwägbarkeiten gewesen. Möglicherweise hat Obama deswegen nach dem vermeintlichen Giftgasangriff 2013 nicht zugeschlagen.

Soweit der Überblick. Ein weiterer Vorteil des vorliegenden Buches besteht in der Ausleuchtung der sozialen und geschichtlichen  Perspektiven. Dabei lokalisiert Lüders die Wurzel allen Übels in der syrischen Sozialstruktur. Da es in Syrien wie in allen arabischen Ländern an einer artikulationsfähigen Mittelschicht mangelt, die eine politischer Ordnung tragen könnte, springt die Armee in die Bresche. Diese syrische Armee kann man aber nicht verstehen ohne die Sonderstellung der Alawiten (nicht zu verwechseln mit den türkischen Aleviten) zu berücksichtigen.  Die Alawiten sind eine schiitische Richtung des Islams und gehören überwiegend zur Unterschicht. Da die Franzosen während ihrer Kolonialzeit die Bevölkerungsmehrheit der Sunniten in Schach halten wollten, rekrutierten sie ihr Militär aus der Bevölkerungsgruppe der Alawiten.  Als Syrien unabhängig wurde, war das Militär also stark alawitisch geprägt. Ihren logischen Abschluss erhielt diese Entwicklung 1970  in der Machtergreifung des alawitischen Assad-Clans, der sich seitdem auf die 10 % Alawiten in Syrien stützt. Allerdings ließ der Assad-Clan bei aller Korruption Raum für wirtschaftliche Aktivität der Bevölkerungsmehrheit, verlangte aber unbedingte politische Loyalität, Widerstand wie etwa von Seiten der Moslembrüder in Hama 1982 wurde mit unvorstellbarer Brutalität niedergeschlagen.  Hafiz al Assad, der Vater des derzeitigen Präsidenten, herrschte mit Brutalität und Effizienz zwischen 1971 bis 2000.

Kein Wunder, dass der Regierungsantritt seines Sohnes Baschar al Assads im Jahre  2000 von vielen Hoffnungen begleitet wurde. Allerdings waren  die Reformmöglichkeiten Baschar al Assads strukturell begrenzt. Wirkliche Reformen wären nur auf Kosten der  Alawiten möglich gewesen, was für den Assad-Clan lebensgefährlich gewesen wäre. Auch die eigene Familie stand Reformen im Weg: Baschir al Assads Vetter Rami Makhlouf hatte als Importeur von Luxusgütern und Herr der Telekommunikation kein Interesse daran, seine Monopole aufzugeben. Baschir al Assads Bruder Maher Assad, der Chef der Elitetruppen, und sein Schwager Assif Schaukat, der  Chef des verhassten Sicherheitsdienstes, hätten sich zu weitgehenden Reformen widersetzt.

Auch außenpolitisch war der Spielraum des neuen Präsidenten begrenzt.  An der Israelfeindschaft und dem besonderen Interesse Syriens am Libanon gab es nichts zu rütteln. Bis heute halten die Syrer den Libanon für einen Teil Syriens, weil es die Franzosen gewesen waren, die in der Kolonialzeit den Libanon aus Syrien herausgelöst hatten. (Eine ähnliche Situation existiert auch im Verhältnis des Irak zu Kuwait. ) Jedenfalls war mit der von syrischer Seite eingefädelten  Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri 2005 das außenpolitische Tischtuch zwischen  Assad und dem Westen zerschnitten.

Einen weiteren Interessengegensatz erblickt Lüders im gescheiterten Plan einer Erdgas-Pipeline vom Golf über den Irak und Syrien in die Türkei (bisher war der Erdgastransport nur  mit Tankschiffen möglich). Diese maßgeblich von Katar betriebene Pipeline wurde von den Russen als den größtem Erdgaslieferanten für Europa und die Türkei heftig bekämpft. Dementsprechend verbot der russische Verbündete Assad 2009 dem Konsortium den Bau dieser Pipeline durch Syrien.

Bei dieser Sachlage kam der arabische Frühling gerade richtig. Als in  der ersten Phase Proteste gemäßigter Syrer vom Regime brutal niedergeschlagen wurden, eskalierte der Konflikt. Unter maßgebliche Förderung westlicher Regierungen etablierte sich eine oppositionelle „freie syrische Armee“, die im Westen als Freiheitsarmee des Volkes verkauft wurde, die aber nach Lüders nur ein grenzenlos überschätzter, in sich uneiniger  Debattierclub war. Viel gefährlicher für Assad waren die kampferprobten Dschihadisten, die vom Westen eine Zeitlang als „gemäßigt“ bezeichnet wurden. Allerdings hätten weder die freie syrische Armee, noch die Dschihadisten auf Dauer gegen die syrische Armee bestehen können, wenn der Westen sich nicht zur massiven Parteinahme entschlossen hätte.  Dabei überschätzte er die Stärke der Opposition und unterschätzte Assads Anhang in der  Bevölkerung. Ebenso unterschätzte der Westen die Entschlossenheit der Russen, ihren traditionellen Verbündeten Syrien nicht fallen zu lassen. Eine von Wikileak im Jahre 2012 veröffentlichte Mail von Hillary Clinton offenbart die ganze dramatische Fehleinschätzung der Amerikaner, vor allen Dingen, was das  russische Engagement betraf.

Wie aber sollte die syrische Opposition bewaffnet werden? Bei der Beantwortung dieser Frage schlägt Lüders einen Bogen zum Sturm auf die amerikanische Botschaft in Benghazi/Libyen der 2012  zum Tod des amerikanischen Botschafters führte. Die Konflikte in Benghazi, so Lüders, seien maßgeblich aufgrund der Versuche entstanden, sich die  herrenlosen Waffenbestände des gestürzten Gaddafi-Regimes anzueignen, um sie an syrische Rebellen zu liefern.

Gleichzeitig braute sich im Irak ein Sturm zusammen, der auf Syrien übergreifen sollte. Im Irak hatten nach dem Sturz des Saddam-Regimes und der Auflösung der Armee hunderttausende Sunniten inmitten in eines nunmehr mehrheitlich schiitischen Staates ihre Existenzgrundlage verloren. Angespornt durch islamistische Propaganda des Terrornetzwerkes Al Qaida und unterstützt durch Millionengelder aus den Golfstaaten griffen diese Gruppen zu den Waffen, so dass zwischen 2006-2010 aus den Resten der aufgelösten Saddat-Armee der bestens ausgerüstete „Islamische Staat“ als Rammbock gegen den verhassten Iran und die mehrheitlich im Irak herrschenden Schiiten entstand.  Als sich die syrische Armee ab 2013 aus dem  Nordwesten zurückzog, füllte der IS dieses Machtvakuum und drang bald auch nach Nordsyrien vor, wo er mit den Kurden in Konflikt geriet. Die irakische Armee erwies sich bei diesen Abläufen als Papiertiger. Ihre Soldaten liefen einfach davon und überließen dem  IS ihre gewaltigen Militärbestände. Wegen der unglaublichen Brutalität des IS auch gegen muslimische Gegner kommt es bald zum Zerwürfnis mit den anderen Dschihadistengruppen. Trotzdem beherrscht der IS zeitweise den Norden des Iraks und Syriens. Angezogen von den Aussichten eines „islamischen Kalifats“ machen sich tausende junge Moslemes aus den europäischen Staaten in den Orient auf, um den IS zu unterstützen.

Im Jahre 2013 entsteht in Qatar das Bündnis der „Freunde des syrischen Volkes“, zu denen auch die Al Nusra Miliz gehörte, was umso erstaunlicher ist, als die Al Nusra Front der irakische Ableger des Terrornetzwerkes Al Qaida ist. Bald ergibt sich die paradoxe Situation, dass die vom Westen finanzierten Waffenlieferungen, die über die Türkei an die syrische Opposition verteilt werden, auch den Al Nusra Brigaden zugutekommen – und dass, obwohl Massaker der Al Nusra Brigaden an Christen und Alawiten bekannt werden.

Als im Jahre 2013 in Ghouta hunderte Menschen bei einem Giftgaseinsatz sterben, droht der Konflikt endgültig zu eskalieren, weil die USA mit der Intervention gegen Assad drohen. Lüders dagegen zweifelt an der Täterschafft von Assad (das Giftgas hat eine andere chemische Zusammensetzung als das Giftgas der syrischen Armee) und hält die Täterschafft von Islamistengruppen für mindestens ebenso wahrscheinlich. Diese These vom Giftgaseinsatz durch Dschihadisten wurde u.a.  von dem Enthüllungsjournalisten Seymour  Hersch vertreten, der auch schon den My Lai Skandal (und neuerdings auch die amerikanische Täterschaft beim Anschlag auf  die Nordstream 2  Pipeline) aufgedeckt hatte.   Lüders ist der Meinung, dass die Türkei Al Nusra bei der Giftgasbeschaffung unterstützt hat, um eine amerikanische Militärintervention zu provozieren. Als eine  türkische Zeitung, die der Gülen Bewegung nahesteht, darüber berichtete, wurde sie gestürmt und auf Regierungslinie gebracht. Folgerichtig  verweigerte Präsident Obama wegen massiver Zweifel an der Täterschaft Assads den Angriffsbefehl. Lüders ist der Meinung, dass heute der IS oder Al Nusra in Syrien herrschen würden, hätte die USA 2013 tatsächlich wie geplant die gesamte militärische Infrastruktur der syrischen Armee zerstört. Stattdessen wird die Krise entschärft, indem sich die syrische Regierung auf Vorschlag Russlands bereit erklärt, ihre Chemiewaffen zu vernichten.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird klar, dass Russland seine Hand über Syrien hält, weil eine Niederlage Assads eine Kontrolle des Nahen Ostens durch Saudi Arabien und damit durch die USA bedeutet hätte, was die Russen auf jeden Fall verhindern wollten. Auch für den Iran stand in Syrien Einiges auf dem Spiel.  Der Iran hatte an der Weiterexistenz des Assad Regime ein elementares Interesse, denn andererseits wäre die schiitische Hisbollah im Libanon isoliert und verloren gewesen. Deswegen überschreitet die Hisbollah auf iranisches Geheiß die libanesisch-syrische Grenze und greift an der Seite Assads in den Krieg ein.

Aber was hat die Türkei im Iran zu suchen? Ihre Aktionen im syrischen Bürgerkrieg werden von der  Furcht getragen,  aus dem Zusammenbruch Syriens könnte ein selbständiger kurdischer Staat im Nordirak oder in Nordsyrien entstehen, der eine Sogwirkung auf die Kurden in der Türkei ausüben würde. Deswegen verschärft die Türkei ihre Antikurdenpoltik.  Als sich die kurdische Milizen und der IS in Nordsyrien in die Haare geraten, unterstützt die Türkei zeitweise den IS mit Waffen und Rekrutierungsmöglichkeiten. Erst massiver Druck der USA beendet diese Unterstützung. Der IS revanchiert sich für diese Wende mit  Terroranschlägen in der Türkei..
Auch was die eigentliche  Schlacht von Aleppo betrifft, setzt Lüders ganz andere Schwerpunkte als der Mainstream. Für Assad ging es darum, den Ostteil Aleppos zu erobern, während im Westen der Stadt das Leben ungehindert weiterging. Die Zivilisten im Osten Aleppos wurden von den Al Nusra-Dschihadisten als lebende Schutzschilde verwendet (ebenso wie die Einwohner von Gaza durch die Hamas).  Eine Flucht der Zivilisten wurde verhindert. Da die Stadt eingekesselt war, kam es zu Versorgungsengpässen, die Luftangriffe der Russen und Syrer führten  zum Tod tausender Menschen, was im Westen als Staatsterror angeklagt wurde.  Nach dem Sieg erlaubten die Assadtruppen den Dschihadisten den freien Abzug  aus Ost-Aleppo, was im Westen als „ethnische Säuberung“ bezeichnet wurde. Danach kehrten 500.000 Menschen in den Machtbereich Assads nach Aleppo zurück, was in den hiesigen Medien  kaum erwähnt wird. Bemerkenswert ist auch der Unterschied in der Darstellung der Belagerung von Aleppo und Mossul. Im ersten Fall waren die syrischen Angreifer Staatsterroristen, im zweiten Fall waren die Kurden Freiheitskämpfer. In beiden Fällen fielen die Bomben und starben Zivilisten. Die Bilder von Mossul und Raqqa sind von denen von Aleppo kaum zu unterscheiden, werden aber vollkommen unterschiedliche rezipiert.

Am Ende zieht der Autor ein pessimistisches Fazit. Der Westen scheint unfähig zu sein, von seinem Anti-Assadkurs abzurücken, obwohl das Ziel des „regime changes“ offensichtlich gescheitert ist. Assad scheint zwar den Krieg gewonnen zu haben, aber neue Konflikte um die Ölfelder im Norden sind zu erwarten. Auch die Dschihadisten sind nicht wirklich besiegt, weil die Reformunfähigkeit der Regierung und die ungerechte Sozialstruktur immer neue Dschihadisten hervorbringt.

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