Vamos: Buch der Väter

Das Buch beschreibt die Geschichte Ungarns in den letzten dreihundert Jahren, dargestellt am Beispiel der Schicksale von 12 Erstgeborenen der Familie Szillag/Sternokovsky/Stern, die ihre Lebensgeschichten jeweils zum Frommen der Nachgeborenen einem so genannten „Buch der Väter“ anvertrauen. Vom Kuruzzenaufstand des Jahres 1706 bis zur Sonnenfinsternis zur Jahrtausendwende 1999/2000 entfaltet sich auf diese Weise ein ungemein üppiges Panorama der Weltgeschichte aus der ungarischen Froschperspektive – mit immer neuen Schauplätzen, Personen und Handlungsfäden, die den Leser nicht nur durch ganz Ungarn sondern durch durch ganz Europa führen.

Wie sehen diese Geschichten im Einzelnen aus? Cornelius Sternokovsky, der erste in dieser Ahnenreihe, der mit seinem Großvater aus Mitteleuropa nach Ungarn zieht, überlebt nur mit Glück einen Haiduckenunfall,  ehe er zu einem erfolgreichen Glashüttenbesitzer aufsteigt, der allerdings im Streit mit seinem Glashüttenmeister erstochen wird. Sein Sohn Balint Sternokowsky, dessen Liebe zur Tochter des Glashüttenmeisters die Ursache des Vatertodes war, wird ein erfolgreicher Sänger, stürzt jedoch Jahrzehnte später aus dem Fenster, als er die inzwischen verheiratete Tochter des Glashüttenbesitzers wiedersehen möchte. Sein Sohn Istvan Sternokowsky heiratet gegen den Willen seiner dicken Mutter eine Jüdin, konvertiert zum Judentum und ändert seinen Namen in Stern. Er verliert seine Frau bei einem schrecklichen Pogrom in Lemberg, wird Zeuge der erfolglosen Josephinischen Reformen, ehe er mit dem Anbruch der Französischen Revolution stirbt. Richard Stern, der Vierte in der Reihe der Erstgeborenen, sitzt wegen harmloser Freigeisterei im der Epoche der Restauration jahrelang im Kerker der Habsburger, ehelicht eine Heiratsschwindlerin, ehe er mit der Liebe seines Lebens sechs Kinder zeugt. Der älteste dieser Sprösslinge, Otto Stern, ein schwärmerischer Haudrauf kommt gerade noch dazu, mit einem Freundenmädchen seinen Sohn Szillard zu zeugen, ehe er an den Misshandlungen im Rahmen eines polizeilichen Verhöres stirbt. Szillard Berda-Stern wächst bei seiner Mutter auf, findet seine Sippe wieder und wird 1849 von den Russen im Zuge der Revolution von 1848/9 erschossen Sein ältester Spross Mendel Berda-Stern durchreist als erfolgreicher Spieler die Salons Europas, ehe er sich aus Lebensüberdruss aufhängt. Sein Erstgeborener Sandor, ein Kind des bürgerlichen Zeitalters,nimmt nach dem großen Ausgleich von 1866 den Namen des Urgroßvaters wieder an und wird als Sandor Szillag ein ungemein erfolgreicher Schuhhändler, der sich nicht zwischen der Liebe zu seiner Gattin Ilona und deren Schwester Antonia entscheiden kann. Er erlebt das Jahr 1900, den ersten Weltkrieg und endet hochbetagt in einem Viehwaggon der Nazis am Schienenrand. Auch sein Sohn Sandor Szillag,der sich wie sein Urahn Balint als Sänger versucht, findet einen schrecklichen Tod im Nazi-KZ. Der Erstgeborene der nächsten Generation, Balacz Szillag, arbeitet gleichzeitig als Mitglied einer  Arbeitsbrigade der ungarischen Armee an der Ostfront, von der er nach schrecklichen Erlebnissen halb verbrannt und verkrüppelt nach Ungarn heimkehrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint dann alles besser zu werden: Balacz Szillag wird der Assistent von Laois Rajk, dem Außenminister der ersten ungarischen KP-Regierung, eher auch dieser und mit ihm sein Assistent im Zuge der Schauprozesse stürzt. Von seinem Sohn Vilmos Szillag ist nicht viel zu berichten, außer, dass er aus Ungarn flieht, mit einer durchgedrehten Inderin in den Vereinigten Staaten einen Nachkommen zeugt und von zwei Afroamerikanern bei einem Strassenüberfall in New York totgeschlagen wird. Sein Sohn ist Henry Szillag, der Spiritus Rector des vorliegenden Väterbuches. Sein Leben endet  ziemlich abrupt lange nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges mit der letzten Sonnenfinsternis des alten Jahrtausends.
Alles in allem also eine imponierende tour de force durch die Jahrhunderte mit zahlreichen erzählerisch ungemein gelungenen Passagen. Seine Vorzüge entfaltet das Buch in einer Verquickung von Weltgeschichte und Einzelschicksalen, wie ich sie derart anschauungsgesättigt  selten gelesen habe.   Dieses literarische Verfahren hat aber auch seinen Prei. Denn so packend und fabulierfreudig sich die Lebensetappen der zwölf Sternovskys auch entfalten, mit keinem einzigen Charakter kann man wirklich warm werden. Kaum hat man sich an eine Gestalt gewöhnt, ist sie schon wieder tot. So geht das immerhin zwölfmal, so dass sich gelegentlich durchaus die literarische Sinnfrage stellt.  So bleibt am Ende das Gefühl, der Autor wäre als begnadeter Erzähler mit diesem gehobenen Michener-Ansatz ein wenig unter seinen Möglichkeiten geblieben. Immerhin: das ideale Buch zur Einführung in die ungarische Geschichte und  für verregnete Tage am Balaton.

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