Walser: Das 13. Kapitel

Die Handlung des vorliegenden Briefromans ist schnell erzählt. Ein Dichter namens Basil Schlupp lernt auf einer Feier im Schloss Bellevue die attraktive Theologieprofessorin Maja Schneilin kennen. Er ist von dieser Begegnung wie vom Donner gerührt und beginnt unaufgefordert einen Briefwechsel mit der Theologin, in der er ihr seine Verfallenheit gesteht und in dem es ihm gelingt, seine Briefpartnerin nach einer gewissen Anlaufzeit für sich zu entflammen. Eine wichtige katalysatorische Funktion in diesem Prozess der gegenseitigen Erhitzung spielt dabei ein zufälliges Zusammentreffen auf dem Flughafen von Tegel, bei dem Basil geistesgegenwärtig der Maja von Warteschlange zu Warteschlange seine EMail Adresse zuruft.
Dann folgt unvermittelt eine Phase der Abkühlung, hervorgerufen durch ein gedankenloses Interview Basils („Gelegenheit macht Liebe“), das die Theologin befremdet. Kaum ist die Beziehung  nach einigem Hin und Her wieder aufgewärmt, erkrankt Korbian Schneilin, der Ehemann der Theologin, an einem Unterleibstumor. Nach der Genesung Korbinians fährt die Theologin mit ihrem Mann nach Kanada, hält aber weiterhin über ihr iPhone Kontakt zum verliebten Basil in Berlin. Dann aber bleiben die Nachrichten aus Kanada aus, und es stellt sich heraus, dass der Ehemann, der in Wahrheit unheilbar krank war, sich in Kanada umgebracht und seine Frau mit in den Tod genommen hat.
Das ist der Handlungsrahmen, der sich in der gerafften Zusammenfassung allerdings kompakter anhört, als er sich im Buch darbietet. Die Handlung aber ist ohnehin nur nebensächlich, denn Walser will mehr: das Thema des Buches ist nicht mehr und nicht weniger als ein Gespräch über die Liebe, ein Gespräch über die Liebe zwischen zwei Menschen, die sich voraussichtlich niemals nahe kommen werden und die deswegen ganz ehrlich sein können. Natürlich ahnt man bereits wie es weitergeht: die rückhaltlose Offenheit beider (Maja „Aletheia ist mein Ziel“) führt – wenn man dem Klappentext glauben darf – „zu einer noch nie erfahrenen Gefühlsheftigkeit“, in der plötzlich alles möglich wird, vor allem, weil sich die gegenseitige Entflammung auf ganz großer Bühne vollzieht: Paulus und der Römerbrief, Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum, Walter Benjamin und der Tübke Altar, Dichtung und Theologie, Liebe und Religion – und ganz zart angedeutet: das 13. Kapitel des Korintherbriefes – treten unter dem Motto vorbehaltloser Offenheit im Briefwechsel der beiden Protagonisten zueinander in Beziehung.

Bei einem so reichhaltig gedeckten geistesgeschichtlichen Gabentisch traut man sich kaum noch zu fragen: wie ist denn die literarische Zubereitung gelungen? Ich will es trotzdem versuchen und schicke voraus, dass ich jede abweichende Meinung  achte.
Zunächst zum Genre. Man kann Briefromane mögen oder nicht – auf jeden Fall erlaubt diese literarische Form seit den „Love Letters“ von Aphra Behn die Darstellung exaltiertester Formen der Emotionalität. Der Leser schaut hier gleichsam durch ein Schlüsselloch der Selbstentblößung zweier Subjekte zu. Das ist heikel, denn nicht jedem Autor ist es gegeben, bei der Darstellung dieser hochpersönlichen Membrane den Kitsch, die Gestelztheit oder die Indiskretion zu vermeiden. Womit wir beim Stichwort wären. Denn in dem vorliegenden Briefwechsel offenbaren sich Basil und Maja keineswegs rückhaltlos sondern kommunizieren mitunter in einer derart artifiziellen Diktion, als würden ihre Briefe am nächsten Tag in einem literarischen Fachjournal veröffentlicht. Dabei bleiben die Passagen nicht frei von unbeabsichtigter Komik. „In Farbe und Form dieses Nein zu jeder Frisur!“, so ruft der Basil seiner Angebeteten über deren Haartracht schon im ersten Brief zu. (Ich sollte mich mal trauen, meiner frau so etwas zu sagen.) Oder allgemeiner an einer anderen Stelle: „Ihr Brief ist eine Wiese. Ich habe darauf gegrast“.

Inhaltlich geht es in dem Briefwechsel zudem reichlich kunterbunt zu, und oft nimmt der eine Partner in seinem Brief keinerlei Bezug auf das, was der Partner im letzten Brief geschrieben hatte. Wollte man systematisch vorgehen, was bei diesem Genre natürlich schwierig ist, werden vorwiegend drei Themenkomplexe behandelt:
1) Erzählungen über die jeweiligen Ehegatten ( Korbinan Schneilin und Irene Schlupp), über die vorwiegend mit Liebe und Bewunderung gesprochen wird: Der Leser lernt deren Lebensweg, Freundschaften, Probleme und Eigenarten kennen.
2) Verdeckt oder offene sexuelle Anspielungen – bei Maja mehr in Gestalt von Erzählungen ( Die Episode vom Exhibitionisten, der den Passanten seine Geschlechtsteil zeigen will – oder: die Geschichte von den kopulationsverklammerten Hunden)-  beim rösigen Basil liest es sich schon direkter: „Alle Frauen, die ich sehe, sehr ich nackt“(46).
3) Ornamentale Auschmückungen des Briefwechsel aus dem Arsenal des deutschen Bildungsbürgers – vor allem mit einer mehrfach konstruierten Parallelisierung von Religion und Liebe und der Anspielung auf das erotische und intellektuelle Verhältnis des Theologen Karl Barth zu seiner Mitarbeitern Charlotte von Kirschbaum.

So hat der Meister drei Fährten gelegt, an denen sich die Walser-Gemeinde abarbeiten kann. Klar, dass es sich um das 13. Kapitel des Korintherbriefes und nicht des Römerbriefes handelt. Klar, dass der Korbinan-Freund Ludwig Froh das alter ego Basis Schlupps ist – überklar auch die Parallele des Exhibitionisten mit dem aufdringlichen Briefschrieber Basil Schlupp – schon diskreter die Doppelung Basil-Maja mit Barth-Kirschbaum. Hier deutet der Meister nur an und verlässt sich darauf, dass seine Leser den Sachverhalt schon recherchieren werden. Ich jedenfalls habe es getan. Ist nun diese halbe Andeutung von Seiten des Autors ein Mangel oder ein besonders aktivierender Kunstgriff?

Diese Fragen stellt man sich an verschiedenen Stellen des Buches. Ist der Schlupp einfach nur eine psychologisch unglaubwürdig konstruierte Figur, oder hat der Autor ihn bewusst als Zerrissenen angelegt? Ist das Bild der frei schwebendenr Hängebrücke als Metapher für Glauben und Lieben einfach nur schief oder eine geschickt implantierte Aufforderung, über dieses Bild weiter nachzudenken?

Je nachdem, wie man diese und andere Fragen beantwortet, wird man auch das Buch als Ganzes beurteilen. Mich hat dieses Walser-Buch insgesamt eher enttäuscht. Ich halte den Duktus des Briefwechsels für gesteltzt bis an die Grenzen zur unfreiwilligen Komik, die Psychologie der männlichen Hauptfigur ist unglaubwürdig, die Inhalte, die sich die beiden erzählen, kommen mir vor wie im Baukastenformat vorfabrizierte Intertretationsangebote. Allenfalls die Parallele zur Affäre von Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum war interessant, möglicherweise hätte hier das Potential zu einem gelungenen Buch gelegen, so aber empfinde ich es in der beiläufigen Erwähnung als unbefriedigend. Alles in allem ein Buch, das seinen eigenen Hohen Anspruch bei weitem nicht genügt – dass mich als Leser aber immerhin dazu veranlasste, nach Abschluss der Lektüre noch einmal zur Erholung das 13. Kapitel des Korintherbriefes zulesen (…und hätte die Liebe nicht.“)

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