Karlauf: Helmut Schmidt. Die späten Jahre

  Jemand wie mir, der in den Siebziger, Achtziger, Neunziger Jahren aufgewachsen ist und die Kanzlerschaften von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl erlebt hat, muss das gegenwärtige Deutschland vorkommen wie ein Irrenhaus – mit offenen Grenzen,  einer Allparteien Koalition, die sich immer mehr vom demokratischen Procedere verabschiedet, mit  einer handzahmen Staatspresse und einer Jugend, die für die Parolen der Regierung auf die Straße geht. Kein Zweifel, es steht schlecht um Deutschland, das Land ist gespalten, und die einzig gute Nachricht ist, dass einer der Hauptverursacher dieser Malaise, die SPD, langsam aber sicher zusammenbricht.

Wie hat das alles begonnen? Es begann natürlich mit der 68er Kulturrevolution – aber ihre erste große Dünung, erlebte diese Bewegung in den Achtziger Jahren. Im Historikerstreit der Achtziger Jahre wurden erstmals konservative und national orientierte Positionen stigmatisiert. Richard von Weizsäcker hielt seine Befreiungsrede, und an den Universitäten erklommen immer mehr 68er die Lehrstühle. Womit wir bei Helmut Schmidt wären, der am Beginn dieser verhängnisvollen Achtziger Jahre als Bundeskanzler zurücktreten musste. Seine „späte Jahren“ Jahre begannen, in der der Ex-Kanzler noch manches Projekt ins Rollen brachte, zurgleich aber erleben musste, dass sich die Gersamtentwicklung der Politik von seinem eigenen Denken entfernte. in eine unmittelbar nach seinem Sturz in den frühen Achtziger Jahren begannen. Helmut Schmidt hat die Anfangsphasen der Rotvergrünug Deutschlands an ihren Anfängen miterlebt, als ihn  seine friedensbewegte Partei am Ende seiner Kanzlerschaft in der Nachrüstungsfrage im Regen stehen ließ.  Nach seinem Sturz hat er ironischerweise die weitere Linksverschiebung des Mainstreams  nicht aus irgendeiner Nische im Ruhestand beobachtet, sondern als Herausgeber der „ZEIT“, deren Redaktion selbst ein Motor dieser Veränderung war. Immerhin, in den Achtziger Jahren war die Presse noch nicht selbstgleichgeschaltet wie heute, aber schon  damals stieß dem Zeit-Herausgeber Schmidt auf, wie parteilich die Berichte waren, wie gehässig der Ton und wie nachlässig die Recherche. In diesem Zusammenhang erinnert Karlauf an die  hanebüchene ZEIT Serie „Das andere Deutschland“ aus dem Jahre 1986, in der ZEIT Redakteure, von offiziellen DDR-Stellen tatkräftig unterstützt,  drei Jahre vor dem Zusammenbruch der maroden DDR das andere Deutschland als eine blühende Landschaft beschrieben.

An diesen und anderen Stellen wird deutlich, dass das vorliegende Buch nicht nur als eine Biografie, sondern auch als eine Zeitgeschichte der Achtziger und Neunziger Jahren gelesen werden kann – und zwar mit den Augen eines traditionellen, sozialdemokratischen Patrioten, für den das Staatswohl vor der Partei rangierte. Kein Wunder, dass Schmidt er mit den Lafontaines, den Epplers und den anderen Halbgenies der „Toskana Fraktion“ seine Probleme hatte. Gegen unsinnige Verstaatlichungspläne und Wahlgeschenke sprach er sich ebenso entschieden aus wie gegen den Zustrom muslimischer Zuwanderung. e Sätze, die Schmidt damals zur muslimischen Massenzuwanderung äußerte, würden ihm heute eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz einbringen.

Nicht alles, was der „späte“ Schmidt befürwortete, hat sich im Nachherein als richtig herausgesellt.  Schmidt war ein glühender Befürworter des Euro, der heute nur noch durch die Staatsanleihekäufe der EZB am Leben gehalten wird. (Allerdings hätte er ich wohl nicht vorstellen können, dass die EZB ihr Mandat so radikal überschreiten und alle Stabilitätsvereinbarungen gebrochen werden würde) Außerdem  konnte er sich eine europäische Einigung nur unter Frankreichs Führung vorstellen, wobei er dem wirtschaftlich viel potenteren Deutschland treuherzig einen der hinteren Ränge zuwies. Auch für die deutsche Einheit hatte er, anders als Willy Brandt und Helmut Kohl,  zunächst keine Antenne, am Ende aber begrüßte er sie, mäkelte aber an den Details ihrer Umsetzung.  An Willy Brandt, dem anderen großen  Sozialdemokraten dieser Epoche, an dem er „einfach nicht vorbeikam“, arbeitete er sich sein Leben lang ab, ohne zu einem wirklich stabilen Verhältnis zu gelangen. Wahrscheinlich konnte er es nicht verwinden, dass er der Kompetentere war, dass die Menschen aber den Visionär Brandt mehr liebten als ihn.

Immer wieder liefert das Buch auch Rückblicke auf Schmidts Werdegang, wobei interessante Fakten zutage treten. Mir war zum Beispiel unbekannt, dass Schmidt einen jüdischen Großvater hatte. „Helmut Schmidts Großvater hieß Ludwig Gumpel, war Bankkaufmann, später Teilhaber eines Bankgeschäfts in seiner Heimatstadt Bernburg, und hatte 1887 im Alter von 27 Jahren eine nächtliche Affäre mit einer Hamburger Buffetmamsell, die schwanger wurde.“   Man sieht, auch in den altvorderen Zeiten hielten die Nächte manche Überraschungen bereit. Da Schmidts Vater nach der Zeugung verschwand und der Spross als „Vater unbekannt“ rubriziert wurde, erwuchsen dem jungen Soldaten Helmut Schmidt keinerlei Nachteile (außerdem erfuhr er eerst Jahrzehnte später davon). Im Gegenteil, so wie es aussah, war Schmidt mit Engagement und Einsatz Soldat und versicherte später immer wieder, wie sehr er das Kameradschaftserlebnis dieser Jahre genossen habe. „Richtige Nazis“, so Schmidt habe er kaum kennengelernt und schon gar nicht geschätzt. Sein  Vorgesetzter sorgte übrigens dafür, dass Schmidt wegen einer abfälligen Bemerkung über Göring noch im letzten Kriegsjahr an die Front versetzt wurde. Auf dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrung und Bewährung konnte Schmidt die  Anklagen der 68er gegen die „Vätergeneration“ nur als überzogen empfinden. Es ging über seinen Verstand, wie das Goldhagen Machwerk „Hitlers willige Vollstrecker“, in dem gleichsam allen Deutschen eine Kollektivschuld unterstellt wurde, derart gefeiert wurde. Verständlich, dass er auch von der teilweise zurechtfrisierten  Wehrmachtsaustellung nichts hielt.

Karlauf beschreibt, wie Schmidts Ansehen nach der Jahrtausendwende geradezu ins Unangreifbare stieg. In einer Epoche, in der eine rasante Linksverschiebung des Mainstreams den öffentlichen Meinungskorridor immer mehr einengte, verehrte die Bevölkerung einen traditionellen, konservativen Sozialdemokraten. Herrlich die Bilder, wie Premiumjournalisten wie di Lorenzo oder Maischberger wie Hänflinge halb gebückt bei ihren Interviews vor dem Weltenkanzler saßen.  Zum sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder dagegen entwickelte sich ein tragfähiges Verhältnis, obwohl Schmidt die  Intervention in Jugoslawien ablehnte. Allerdings fanden Schröders Hartz IV Reformen seine uneingeschränkte Zustimmung. Was Schmidts Verhältnis zu seinem Nachfolger Helmut Kohl betrifft, so trübt allerdings ein hässlicher Schatten das  ansonsten so beeindruckende Bild. Die kleinliche Verachtung, mit der er seinen Nachfolge bedachte (und die von Kohl nicht zurückgegeben wurde) passt nicht in sein ansonsten großzügiges Persönlichkeitsbild. Ein zutiefst sympathischer Zug bestand auf der anderen Seite in der Loyalität, die Schmidt ehemaligen Freunden auch dann erwies, wenn sie in die Bredouille gerieten. Sogar Manfred Stolpe erfuhr Schmidts Unterstützung, obwohl er als inoffizieller Stasi Mitarbeiter enttarnt worden war. Zu den interessantesten Passagen des Buches zählt die Beschreibung des Verhältnisses von Helmut Schmidt zu anderen Heroes der Zeit, etwa zu Henry Kissinger, mit dem er stark rivalisierte oder zu Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Weizsäcker konnte schwer verwinden, dass er in der Hitliste der größten lebenden Deutschen stets hinter Helmut Schmidt rangierte. Schmidt seinerseits hielt Weizsäcker insgeheim für einen Heuchler der der Mehrheit der Deutschen in seiner großen Rede von 1985 die Anpassung an die NS Diktatur vorwarf, sich selbst und seinen Vater aber davon ausnahm.

Am Ende, nahe dem biblischen Alter von einhundert Jahren,  konnte sich Schmidt nicht mehr der Einsicht verschließen, dass die Politik ganz andere Wege eingeschlagen hatte, als die, die er seinen Parteigenossen immer wieder ans Herz gelegt hatte. Den Einbruch der SPD auf 23 % und ihr Ende als Volkspartei hat er noch kurz vor seinem Tod erlebt, ohne dass er ihr deswegen untreu geworden wäre. Mit der SPD sei es wie mit dem HSV, meinte Schmidt: „Auch wenn der Verein meistens nur noch verliere, bleibe man ihm doch treu.”

Über das vorliegende Buch ist am Ende nur ein kurzes Urteil zu fällen:  absolute Spitzenklasse, sowohl was Stil  und Diktion, aber auch  Ausgewogenheit der Urteilsfindung und die Breite der wissenschaftlichen Belege betrifft. Ein historisches Werk der Spitzenklasse, zu lesen wie eine Geschichte der letzten Jahre der alten Bundesrepublik.

 

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