Oltmer: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart

Oltmer Globale Migration _

Das vorliegende Buch bietet auf relativ engem Raum nicht mehr und nicht weniger als eine  Weltgeschichte der Migration seit dem 16. Jhdt. Donnerwetter denkt man, so viel in einem so schmalen Band? Aber es stimmt. Eine erstaunliche Datenvielfalt wird durch nachvollziehbare Kategorisierung für den Leser auf eine sehr konzentrierte Weise transparent. Wobei hier „Sehr konzentriert“ bedeutet, dass man das Buch nur mit Bleistift und Papier lesen sollte, um sich das Wichtigste zu notieren. Sonst kann man es gleich vergessen. Abgesehen vom Schluss des Buches, auf den ich weiter untern zu sprechen komme, handelt es sich um ein Werk der Extraklasse für alle, die bei der Migration, einem der Grundthemen unserer Epoche, nicht nur daher plappern sondern argumentativ mitreden wollen.

Erste Einsicht, die jedem Leser bald dämmert: Eine Geschichte der Migration ist fast identisch mit der Weltgeschichte, weil alle großen epochalen Veränderungen durch Migrationen vorbereitet wurden oder Migrationen  hervorriefen.  Aus der imposanten Mange der Belege und Verweise aus allen Epochen und Zeiten, die in dieser Besprechung auch nicht ansatzweise benannt werden können,  konzentriere ich mich im Folgenden auf Europa, da diesem Kontinent eine zentrale Funktion in der globalen Migration zukommt.

Denn die globale Migration beginnt für den Autor erst mit der Epoche der europäischen Entdeckungen.  Sie beruht nicht nur auf der technisch-naturwissenschaftlichen Überlegenheit sondern

  • auf der „Inwertsetzung“ bisher wertloser Räume durch die europäischen Mächte und
  • einer einmaligen Bevölkerungsexplosion. Europa Einwohnerschaft wächst  im 19. Jhdt. von 187 auf 467 Millionen Menschen.

Bei den Inwertsetzung peripherer Gebiete durch die westlichen Kolonalmächte handelt es ich um die Erschließung des australischen Kontinentes zwischen 1815-1930, des südlichen Südamerika (Argentinien, Chile, Uruguay), Sibiriens durch den Bau der Transsib, der Mandschurei und vor allem des afrikanischen Südens. In dieser heißen Phase der globalen Migration wandern  zwischen 1815 bis 1914 60 Millionen Europäer (!) in die neuen inwertgesetzten Räume aus. „Inwertgesetzt“ bedeutet hier, dass die Ressourcenreichtum der Räume steigt, für die Ureinwohner aber ging diese Inwertsetzung sehr oft mit einer sozialen Verelendung und Marginalisierung einher. Von den europäischen Auswanderern gingen  66 % nach Nordamerika ( hier das Verhältnis US Kanada 6 zu 1 ), 20 % nach Südamerika ( hier vor allem nach Argentinien, ferner Chile und Uruguay), 7 % nach Australien/Neuseeland  und der Rest nach Afrika und Asien. Im Zusammenhang mit diesen Vorgängen bietet der Autor eine Unmenge von interessanten Details, die hier nicht wiedergegeben werden können. Hier nur zwei ein Beispiel: Es ist weitgehend unbekannt, dass es zu erheblichen Rückwanderungen kam, die ein gutes Maß für die Anpassungsfähigkeit der Zuwanderer bieten. Die durchschnittliche Rückwanderungsquote betrug 22 %, bei den Bulgaren aber 90 %, bei den Juden 5 %. Oder: wer hat jemals von den „Golondrians“ gehört, jenen italienischen Migranten, die oft jahrzehntelang alljährlich als Saisonarbeiter den Atlantik überquerten, um im Süden Südamerikas zu arbeiten.

Im Gefolge  der europäisch organisierten Inwertsetzung peripherer Gebiete entwickelt sich eine weltweite  indische und chinesische Migration, vor allem nach Indochina, in die Südsee, nach Indonesien und teilweise auch nach Amerika.  Fast überall bemächtigen sich die Inder und Chinesen der  Vorherrschaft im Kleinhandel und lokalem Geldverkehr, während sie in den überwiegend europäisch besiedelten Gebieten lange Zeit durch diskriminierende Einwanderungsgesetze behindert werden.  Bemerkenswerterweise schicken die chinesischen und indischen Migranten (oft Kontraktarbeiter) ebenso wie heute viele Muslime ihr Geld zurück. Sie wurden also nur zum Teil Mitglieder der Gastgesellschaft sondern blieben eher Filialen ihrer alten Heimat.  Diese „Rücküberweisungen“ sind bis auf den heutigen Tag eine der wesentlichen Quellen der Außenhandelsbilanzen weniger entwickelter Staaten.

Indische und chinesische Migration IMG_2364Nachdem Europa über Jahrhunderte hinweg die globale Migration als Auswanderungskontinent prägte, kommt es aber 1950 zur Kehrtwende.  Europa wird zum Einwandererkontinent . Dieser Umschlag beruht auf der Verknüpfung   von mehreren Prozessen:

1) Die Dekolonialisierung führt zwischen 1950 bis 1980 zur  Rückwanderung von 5- 7 Millionen Europäern, davon  330,000 Niederländern ( unter ihnen 12.500 Molukken, die an der Seite der Niederländer gegen die indonesische Unabhängigkeitsarmee gekämpft hatten). Frankreich nimmt 1,8 Millionen Franzosen zurück, darunter allein eine Million aus Algerien ( „Pier Noirs“, ethnische Franzosen, die nicht in Frankreich geboren waren – und „Harkis“, algerische Unterstützer Frankreichs, denen aber die Integration in Frankreich erschwert wird, sodass die ersten Krawalle auftreten)

2) Es kommen aber nicht nur Europäer zurück, sondern Asiaten und Afrikaner nach Europa, weil namentlich  Großbritannien  und Frankreich für ihre Kolonien die Einwanderungshürden senken (Frankreich erlässt 1947 die Algerien-Akte, die die Unterschiede zwischen Frankreich und Algerien einebnen soll, weil eine vollständige Integration Algeriens ins Mutterland vorgesehen war – in  Großbritannien wird 1948 der „Britisch Nationality Act“ verabschiedet, der die Einwanderung aus dem Commonwealth regelt).

3) Ab 1950 beginnt mit dem zwanzigjährigen explosiven Konjunkturaufschwung in den USA und Westeuropa die Massenmigration über Arbeitsverträge (Muster 1942: das amerik.-mexikanische „Bracero Programm“, auf dessen Grundlage bis 1964 vier Millionen Mexikaner als Arbeitskräfte  in die USA kommen). Zusammen mit ihren Familien und der illegalen Migration aus Mexiko beginnt sich der amerikanische Süden langsam aber sichere zu hispanisieren.  In Europa vollzog sich die Arbeitskräfteanwerbung ähnlich, Großbritannien und Frankreich öffneten weit ihre Tore für die Angehörige ihrer eigenen Kolonien aber auch für Gastarbeiter . Das traf auch für Deutschland zu, das  zuerst aus Europa, dann aus der Türkei Hunderttausende Gastarbeiter rekrutierte. Diese „Gastarbeiter“ aber blieben und bildeten eigene Communities, wobei die Rückwanderungsquoten umso geringer, je schlechter die Zuwanderer ausgebildet waren. Wie Douglas Murray in „Der Selbstmord Europas“ im europaweitem Maßstab  herausgearbeitet hat, geschah dieser Prozess völlig ungesteuert und naturwüchsig, weil sich niemand die epochalen Folgen dieser Einwanderung vorstellen konnte.  Denn als in den frühen Siebziger Jahren die Nachfrage nach  gering qualifizierten Arbeitskräften zurückging, nahm die  Massenzuwanderung namentlich aus dem muslimischen Kulturkreis aber erst richtig Fahrt auf. Die Lockeffekte der inzwischen entstandenen Parallelgesellschaften, die hohen Sozialleistungen und eine gewissen kulturelle Selbstverachtung der westlichen Eliten unterstützen diesen Prozess. Der letzte Satz, das sei ehrlicherweise hinzugefügt, ist eine Interpretation des Rezensenten, denn der Autor selbst hütet sich vor jeglicher Kritik an der Migration. Ich halte das für einen der wenigen Schwächen des vorliegenden Buches, denn die Frage nach negativen Auswirkungen Migration für die Aufnahmegesellschaften unterbleibt. Dabei hätte gerade der Begriff der „Inwertsetzung“ zu der Frage einladen könnte, ob es auch eine „Außerwertsetzung“ durch Einwanderung gibt.

Bei seinen abschließenden Betrachtungen zu den Migrationsprozessen der Gegenwart vertritt der Autor die These,  die weltweite Migration am Beginn des 21. Jhdts. sei nicht höher ist als früher. Er belegt dies mit dem Migrationsindex des Wiener Institut für Migration, der die Zahl der Grenzübertritte  mit der Weltbevölkerung in Beziehung setzt. Dieser Migrationsindex soll für die letzten Jahrzehnte stabil bei 0,6 % liegen ( d h. bei einer Weltbevölkerung von 6 Milliarden Menschen ergeben etwa 36 Millionen Grenzübertritte eine Quote von 0,6 %). Was für ein Taschenspielertrick, denn wenn die Weltbevölkerung rasant steigt, und der Migrationsindex stabil bleibt, muss auch die Migration rasant zunehmen, was vor allem die Bevölkerung demografisch schrumpfender Länder als augenfällige Veränderung erleben.

Denn die Daten zur Entwicklung der  Weltbevölkerung sind wahrlich beunruhigend: 1960 betrug sie 3 Mrd. Menschen, 1970 4 Mrd., 1987 5 Mrd., 2015 7,3 Mrd. Für 2030 sind 8,5 Mrd. Menschen vorhergesagt. Dieser Zuwachs speist sich ausschließlich aus den enormen Reproduktionsraten der armen Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. – wobei die Geburtenrate in den westlichen Länder gleichzeitig dramatisch schrumpft. Dass sich in dieser Relation  eine epochale Herausforderung für die westlichen Länder zeigt, scheint den Autor nicht sonderlich zu beunruhigen.

Was der Migrationskoeffizient übrigens auch nicht erfasst, ist die zunehmende Verstädterung zu der auch die Binnenwanderungen beitragen. Eine Betrachtung der Urbanisierung  der Kontinente im Vergleich zeigt folgendes Bild für das Jahr 2015: in Afrika leben 40 Prozent der Menschen in Städten, in Asien sind es 48 Prozent. Die höchste Urbanisierungsrate weist Nordamerika mit 82 Prozent auf, gefolgt von Südamerika und der Karibik mit 80 Prozent. Europa erreichte 76 Prozent, Ozeanien 71 Prozent.  Eine Begleiterscheinung dieser Binnenwanderung ist die Entstehung immer neuer Mega-Citys mit mehr als 10 Millionen Menschen. 1950 zählten weltweit nur zwei Städte mehr als 10 Millionen Einwohner, 1990 dann bereits zehn.  2015 gab es 28. (darunter Tokyo, die größte Megacity der Welt).

Am Ende des ungemein informativen Buches kommt es allerdings zu einem dramatischen Qualitätseinbruch. Das Kapitel über Klimawandel als neue Migrationsursache hantiert mit den sattsam bekannten Horrorzahlen aus zurechtfrisierten Computermodellen und malt Weltuntergangsszenarien an die Wand, auf deren Grundlage eine Erweiterung legitimer Flüchtlingsgründe für die ganze Welt gefordert wird. Gute Nacht, Europa, kann man da nur sagen.  Kaum besser gelungen sind die die abschließenden Betrachtungen zur Massenmigration nach Deutschland im Jahre 2015, die ganz offensichtlich nachgeschoben und politisch glattgebügelt wurden. Als Gründe für die Massenzuwanderung nennt der Autor wirtschaftliche Gründe (genauer  wäre gewesen: Einwanderung in die Sozialsysteme), Lockeffekte der Parallelgesellschaften, großzügige Alimentierung durch die Aufnahmegesellschaft, einen Abbau von Barrieren (paradoxerweise  meint nicht die widerrechtlichen Grenzöffnungen sondern die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU, die mit der muslimischen Massenzuwanderung nichts zu tun hat.) und den Bankrott des Dublin Systems. Man kann wirklich nur den Kopf darüber schütteln, wie sich der Autor hier selbst die Scheuklappen anlegt. Denn gerade auf dem Hintergrund der imponierenden und übersichtlich geordneten Daten- und Kategorienvielfalt seines Buches sticht die Kuriosität, um nicht zu sagen: Widersinnigkeit der deutschen Grenzöffnung 2015 umso mehr ins Auge.  Dass ein Land gegenüber hunderttausenden,  aggressiv in ein anderes Land drängenden, überwiegend jugendlichen, schlecht ausgebildeten und gewaltbereiten Migranten aus einem gänzlich anderen Kulturkreis die Grenzen unter Missachtung von Recht und Gesetz öffnet, um diese jugendlichen Migranten anschließend aus dem allgemeinen Steueraufkommen genau so gut oder besser zu alimentieren als die  eigenen Unterschichten, dürfte ein weltgeschichtlich einmaliger Vorgang sein. So einmalig, dass es wahrscheinlich das Begriffskorsett des vorliegenden Buches sprengt.

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